Florentina - Liebe fragt nicht

Weiße Wolken, jede von ihnen flauschig wie das Lieblingsschaf ihres Großvaters, türmten sich vor dem Flugzeugfenster. Ihr Blick verlor sich abwesend in den scheinbar weichen Wolkenschäfchen. Die Sonne blendete Florentinas rotgeweinte Augen. Vierundzwanzig Stunden, siebentausend Kilometer - und sie glaubte, sie hatte das größte Glück ihres Lebens für immer verloren.

Kapitel 1
Berlin zwei Jahre zuvor...
»Florentina und Leander - das Traumpaar!«
Verschnörkelte lilafarbene Buchstaben schmückten jede Einladungskarte. Sie hatte die Farben ausgesucht. Leander gefielen sie nicht, doch weil er sie liebte, fügte er sich ihren Wünschen.
»Schon bald bist du Frau Doktor Florentina Carwell. Wie ich dich beneide!« Lisas Augen leuchteten vor Aufregung.
Als sie ihre Freundin fragte, ob sie ihre Brautjungfer werden wollte, hatte die vor Rührung geweint. Schon in der Schule konnte sie sich einer Sache mit ganzem Herzen hingeben. Deshalb mochte sie Lisa. Florentina wusste, dass sie ihre Aufgabe mehr als gut erfüllen würde.
Sie war die geborene Brautjungfer. In ganz Berlin gab es keine Bessere. Bunte Katalogseiten flogen über ihre zittrigen Finger.
»Und Boston - die Flitterwochen...«
Florentina war noch nie in Neuengland gewesen. Die Architektur im Kolonialstil, weite Strände und Reihen schneeweißer Yachten an ausgeblichenen Bootsstegen - die Bilderflut, die durch Lisas Hand rauschte,
entsprach durchaus jeder ihrer Vorstellungen.
»Eigentlich werden das keine Flitterwochen!«, betonte sie merkwürdig still. »Du weißt doch, dass Leander die Praxis seines Onkels übernehmen wird.«
Seufzend lehnte sie sich zurück. Ein wenig hatte Lisa schon recht. Dass sie bald die Frau eines erfolgreichen Chirurgen mit gutgehender Beauty-Praxis sein würde, fühlte sich für sie wie ein Märchen an. Ihre Mundwinkel bewegten sich zu einem verträumten Lächeln. Für einen kurzen Augenblick erinnerte sie sich an den Tag, als Leander an einem Tisch im Bahnhofsbistro gesessen hatte und sie mit einem Blick anstarrte, der ihr noch heute peinlich war. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt.
Das ist mir egal, dachte sie. Sie glaubte daran, an der Seite dieses Mannes ihr altes Leben endlich hinter sich zu lassen.
Als ihr Vater starb, hatte sie gerade ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Von da an war ihre Mutter nur noch mit sich selbst beschäftigt. Die letzten Jahre vor ihrem Tod hatten sie wieder ein wenig nähergebracht. Leider war es ihnen nicht gelungen, den Riss, verursacht durch die verlorene Zeit, zu kitten. Der einzige Mensch, der ihr damals geblieben war, war Eylin, ihre große Schwester. Sie war zehn Jahre älter und so lange Florentina denken konnte, ihre Vertraute, Freundin und manchmal auch Mutterersatz. Während sich Lisa immer mehr in die Hochzeitsvorbereitungen vertiefte, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf und ohne es zu bemerken, verlor sich ihr gläserner Blick in der Vergangenheit.

Ost-Berlin neunzehn Jahre zuvor...
»Eylin, Eylin...!« Aufgeregt stürmte die kleine Florentina mit den kaum zu bändigenden blonden Löckchen auf das große Mädchen mit dem ebenfalls blonden Stoppelhaar zu. Die hatte den Wirbelwind von weitem ausgemacht und war in die Hocke gegangen, um sie mit offenen Armen in Empfang nehmen zu können. Sie fest an sich drückend stand Eylin auf und drehte das vor Freude kreischende Kind mehrfach um ihre Achse. Dann stellte sie Florentina auf ihre Füße, behielt sie jedoch an der Hand. Bei diesem Kind wusste man nie, was es als nächstes tat.
»Eylin komm, ich will dir etwas zeigen!«, strampelte Florentina und zog ihre Schwester hinter sich her.Sie hopste den langen Flur der KITA entlang und ihr aufgeregter Blick suchte angestrengt die aneinandergereihte Bilderflut ab, die man mit Klebestreifen an die Wand geheftet hatte. Abrupt blieb sie stehen und mit leuchtenden blauen Augen präsentierte sie ihrer Schwester das am Morgen entstandene Kunstwerk.
Verblüfft betrachtete Eylin das Bild. Ähnlich, wie sie das einzigartige Blau in Florentinas Blick faszinierte, so wurde sie nun eingenommen von den schlichten Farbtönen. Für eine Sechsjährige verfügte sie anscheinend ganz natürlich über ein Gefühl für zusammengehörende Farbnuancen.

Eine Blumenwiese - Florentina Kummer 6 Jahre

Der mit Bleistift unter dem Bild versehene Titel traf durchaus zu. Eingerahmt von den Zeichnungen der anderen Kinder unterschied sich ihr bereits jetzt schon zu erkennender Pinselstrich auf dem schlichten Papier enorm von dem der Gleichaltrigen. Lächelnd strich sie über die blonden Löckchen der Kleinen und gab ihr einen Kuss.
»Flori, Kleines. Eines Tages werden sich die Leute um deine Bilder reißen.« Erstaunt über ihre plötzlichen Gedanken, die sie laut ausgesprochen hatte, drehte sie sich verlegen um. Doch außer Florentina, die schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt war, hatte sie niemand gehört.
Eylin verfolgte mit besorgten Blicken das ungestüme Wesen ihrer Schwester. Seufzend setzte sie sich zu ihr auf die flache Holzbank an der Wand unter die Kinderzeichnungen und half ihr in die Gummistiefel.
Gut, dass sie so ein sonniges Gemüt hat, dachte sie traurig, erhob sich und schob den Reißverschluss von Florentinas Jacke nach oben.

Dann wendete sie sich nickend einer Erzieherin zu und zog die Tür der KITA hinter sich ins Schloss. Mit der fröhlich plappernden Schwester an der Hand schweifte ihr Blick an den schlichten, grauen Betonklötzen der Wohnsiedlung entlang. Die Plattenbauten Ost-Berlins wirkten einfach nur trostlos und schienen ohne jegliche Zukunft dahinzuvegetieren. Man sagte zwar, der Westen der Stadt sei bunter, doch das stimmte auch nur bedingt. Häuserfluten, trist und ohne ein Fleckchen Grün - so will man nicht wohnen!, dachte sie mit einem Schaudern.
Wie zauberhaft hatte dagegen die bunte Blumenwiese auf dem weißen Zeichenkarton gewirkt. Eylin begann, sich die Mauern mit Farben hell und bunt wie die eines Regenbogens vorzustellen. Aber das Bild, was sanft vor ihrem inneren Auge entstand, vermochte ihre Sorgen nicht zu vertreiben. Seufzend kehrte ihr Blick zu dem ungetrübten Lächeln auf dem rosigen Gesicht ihrer Schwester zurück. Vier Monate waren sie nun schon mit ihrer Mutter allein. Zwar war das Verhältnis zu den Eltern nie wirklich liebevoll gewesen, dennoch hatte der plötzliche Tod des Vaters eine Lücke hinterlassen, die offenbar nicht zu schließen war. Seitdem verschanzte sich ihre Mutter hinter Trauer und Wut. Die Umwälzungen nach dem Mauerfall hatte die bis dahin ohnehin schwierige Beziehung ihrer Eltern zusätzlich belastet.
Deshalb konnte Eylin ihre Mutter nicht verstehen, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatte, ganz in ihrer Trauer aufzugehen. Ein liebevolles Zuhause kannten die Mädchen nicht, doch jetzt schien der Begriff ’zu Hause’ dem gar nicht mehr gerecht zu werden.
Innerhalb weniger Wochen hatten sich Eylins Pläne zerschlagen, in den nächsten Jahren nach West-Berlin umzusiedeln. Ihre Chancen auf ein Studium waren überdurchschnittlich gut. Pädagogik war ihre Leidenschaft, egal in welcher Form - jede Studienrichtung wäre ihr recht gewesen. Aber seit ihr Vater auf der Straße einfach zusammengebrochen war und auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb, musste sie sich von ihren Träumen verabschieden und etwas in der Nähe suchen. Schließlich konnte sie Florentina nicht allein zurücklassen. Die Hoffnung, dass ihre Mutter irgendwann die Kurve kriegen würde, hatte sie inzwischen aufgegeben. So entschied sie sich nun schweren Herzens, solange die kleine Schwester sie brauchte, mit dem Studium zu warten.
Ein beruflicher Umweg ist doch kein Weltuntergang, dachte sie mit Tränen im Gesicht. Florentina ist es wert!
Für sie war es eine unumstößliche Tatsache und einen Zweifel erlaubte sie sich nicht. Verstohlen wischte sie sich ihre Tränen mit dem Handrücken vom Gesicht und beobachtete den Blondschopf vor ihr, dessen grüne Gummistiefel durch die Regenpfützen stapften.


West-Berlin einige Jahre später...
»Florentina, streng dich gefälligst an! Du weißt, was auf dem Spiel steht«, ermahnte sie Eylin.
»Ja, du hast recht. Glaubst du denn, ich hätte vergessen, was du für mich aufgegeben hast? Entschuldige bitte!«
Zerknirscht und mit schlechtem Gewissen setzte sie sich zurück an den Schreibtisch und kämpfte sich durch die trockenen Seiten des Geschichtsreferates ihres Professors. Sehnsüchtig schwebten ihre Augen zurück zur Staffelei am Fenster und schnell verlor sie sich in Bildern. Ein imaginärer Pinsel tauchte in ein leuchtendes Grün und führte den ersten Strich über die Leinwand. Eigentlich hatte sie nie studieren wollen, nur malen und dabei völlig alternativ leben. Sie glaubte, dass das kein Problem für sie wäre. Aber diese Vorstellungen auszusprechen, das wagte sie nicht. Natürlich war ihr bewusst, dass Eylin nach dem Tod ihres Vaters, statt nach West-Berlin zu gehen und zu studieren, eine Stelle in ihrer KITA angenommen hatte und das nur, um in ihrer Nähe bleiben zu können. Jetzt war es Zeit, Eylin zu zeigen, sie hatte nicht umsonst auf ein eigenes Leben verzichtet.
Seit Florentina studierte, versuchte auch Eylin endlich ihre Träume zu verwirklichen. Über den zweiten Bildungsweg war es ihrer zähen Schwester gelungen, endlich einen Studienplatz für Spezialpädagogik zu ergattern. Dass sie hierfür mehr als geeignet war, stand für Florentina fest. Schließlich hatte sie viele Jahre Zeit gehabt, um am lebenden Objekt zu trainieren. Eylin opferte für sie die wohl aufregendste Zeit eines jeden Teenagers, um ihr Vater und Mutter zu ersetzen. Es lastete schwer auf ihrer Seele. Deshalb sah sie es jetzt als ihre Pflicht an, ihr Studium bestmöglich zu absolvieren. Dabei trug Florentina keine Schuld an der Tatsache, dass sich ihre Mutter bis zu ihrem Tod geweigert hatte, sich um ihre Töchter zu kümmern. Seufzend drehte sie sich wieder ihrem Text zu. Ein letzter verstohlener Blick flog in Richtung Leinwand.
»Irgendwann wird darauf eine Blumenwiese zu sehen sein...«, murmelte sie und begann zu lesen.
Der Weg bis zum Abschluss ihres Kunststudiums ähnelte immer öfter einem Marathon. Das Wenige, das ihnen vom Vater geblieben war, genügte gerade fürs erste Semester. Aber Berlin bot den Schwestern unzählige Möglichkeiten. Florentina entschied, Eylin in Zukunft nicht mehr auf der Tasche zu liegen, denn bei zwei Studierenden reichte das Geld hinten und vorne nicht.

Praktisch jeder Student, den ich kenne, kellnert, dachte sie unsicher und betrat mit der Anzeige in ihrer Hand das Bahnhofsbistro.
Im Inneren befanden sich rustikale Tische und Stühle, genau so, wie man sich nach einer Beschreibung in alten Romanen eine Kneipe ausgemalt hätte. Ein aufdringlicher Geruch nach abgestandenem Alkohol, Staub und Feuchtigkeit lag in der Luft. Eine Atmosphäre, die einer verruchten Spielbar glich - so etwas musste man mögen. Trotzdem nahm sie die Stelle an. Jeden Tag pendelte sie zwischen Universität und Bistro. Die Schichten waren hart und das Bistro voller lauter und hektischer Menschen. Franz Blumberg, der Besitzer, zahlte ihr vom ersten Tag an Zuschläge, von denen sie annahm, jeder Euro galt einer ihrer blonden Locken, die wellig über ihre Schultern fielen. Anfangs hatte sie sich von seinen Blicken verfolgt gefühlt. Aber weil er es bei
verträumten Illusionen, die hinter seinen blauen Augen tanzten beließ, nahm sie es hin. Etwa zwei Monate später fielen ihr zum ersten Mal die ungewöhnlichen und sich wiederholenden Treffen von Künstlern, Designern und merkwürdigen Geschäftsleuten auf.
Wie kommt man auf die Idee, sich ausgerechnet hier in dieser Spelunke zu treffen?, fragte sie sich stets, wenn sich ihr Blick über den heißen Diskussionen Franz Blumbergs bizarrer Gästeschar verlor.
Sie konnte es nicht verstehen. Das Radisson lag mit seinem noblen Ambiente praktisch quer über die Straße und schien eher geeignet, Gesellschaften dieser Art anzuziehen. Doch irgendwann erkannte sie den Grund, warum sich diese Leute hier trafen. Wenn man wollte, konnte man sich in diesem Bistro vor den Augen der Welt verstecken. Nach einem halben Jahr dachte sie nicht mehr darüber nach. Im Gegenteil, sie begann die spezielle Kundschaft zu genießen.
Eines Tages öffnete diese ihr plötzlich und unerwartet die Tür zur Berliner Kunstszene und ermöglichte ihr so die erste eigene Ausstellung. Ein Geräusch schreckte sie auf. Lisas Ordner hatten sich verselbständigt und polternd auf dem Boden verteilt. Seufzend musste Florentina in die Gegenwart zurückkehren. Obwohl ihre Augen versuchten, der geschäftigen Brautjungfer nun aufmerksamer zu folgen, glitten ihre Gedanken schon wenige Augenblicke später erneut ab. Eben genau zu diesem ganz besonderen Tag, als sie die Tür der Galerie öffnete. Die war klein, speziell, aber dennoch gut besucht.
Staunend und mit Stolz im Blick begrüßte sie die handverlesenen Gäste. Eylin war wie immer an ihrer Seite. Mit einem vollen Tablett kämpfte sie sich durch die Leute und verteilte Champagnergläser. Aufmunternd zwinkerte sie ihrer Schwester zu, die vor Aufregung völlig neben sich stand. Dass Florentina bei Mirko Stammer - Inhaber der auf dem Universitätsgelände ansässigen Galerie - ausstellen durfte, glich einem Ritterschlag. Mirko war bekannt für Extravaganz, galt als unbestechlich und fern jeglicher Schmeichelei. Wenn einer wusste, was in
der Kunstszene gerade angesagt war, dann er. Ab und zu hielt er an der Universität Vorträge über Farbenlehre. Er galt als Koryphäe auf diesem Gebiet. Trotzdem waren seine Veranstaltungen meist schlecht besucht.
So hatte es sie nicht verwundert, dass er sich ihrer Malerei widmen konnte. Dass er tatsächlich an ihren Bildern interessiert war, glaubte sie allerdings nicht. Vielmehr schienen ihre blonden Locken die Türen der Galerie für sie zu öffnen, wie so oft. Es ärgerte sie, wurde sie allein auf ihr Äußeres reduziert. Außerdem nannte Mirko Franz Blumberg einen guten Freund und dessen Bistro einen Ort, den er als seine Muse adelte.
Eylin war anderer Meinung. »Schätzchen, das ist doch vollkommen egal. Schließlich heiligt der Zweck die Mittel. Du musst nutzen, was dir die Natur bietet. Auch, wenn es blonde Locken sind. Die Chance, bei einem angesagten Galeristen ausstellen zu dürfen, ist nicht alltäglich.
Du musst nur daran glauben und deine besondere Begabung gibt dir alle Zeit der Welt. Ich jedenfalls bin dein größter Fan.«
Ob nun Talent oder blondes Haar? Vielleicht ist es wirklich egal, was am Ende zum Erfolg führt, dachte sie und schaute nervös auf die Anwesenden.
Nach einer kurzen Ansprache des Inhabers Stammer prosteten alle der Künstlerin zu. Weil Florentina wie erstarrt wirkte, bat Eylin ums Wort.
»Werte Gäste, ich bitte kurz um Ihre Aufmerksamkeit. Wer mich noch nicht kennt, mein Name ist Eylin Kummer. Ich bin Florentinas Schwester und ihre größte Bewunderin.«
Jedes Gespräch verstummte und alle Augen richteten sich auf Eylin. Ihr schien es, im Gegenteil zu Florentina, nichts auszumachen. Sie wäre am liebsten davongelaufen.
Himmel, diese Gefühle sollte ich mir dringend abgewöhnen, wenn ich in Zukunft öfter hier sein will!, ärgerte sie sich über ihre plötzliche Panik.
»Bitte schauen Sie sich um und sollten Sie Gefallen an einem der Werke finden, stehen Herr Stammer und wir Ihnen gern zur Verfügung.«
Erneut wurden die Gläser gehoben und Eylin strahlte Florentina an. Als sich die Gäste den Bildern zuwandten, kam sie mit einem kleinen Päckchen, eingewickelt in Seidenpapier, überglücklich auf sie zu.
»Das ist für dich, herzlichen Glückwunsch!« Florentina schaute sprachlos in die strahlenden Augen ihrer Schwester. »Mach es auf! Los, auf was wartest du?«
So ungeduldig und aufgeregt hatte sie die sonst so beherrschte Eylin noch nie gesehen. Vorsichtig zog sie an den goldenen Schleifen und schob das Papier zur Seite. Mit Tränen in den Augen hielt sie einen schlichten Holzrahmen in der Hand. Unter dem Glas kam eine bunte Kinderzeichnung zum Vorschein. Ein getupftes Blütenmeer und darunter stand:

Eine Blumenwiese - Florentina Kummer 6 Jahre

»Ich weiß gar nicht...«, stotterte sie schniefend. »Woher hast du das?«
»Ich habe es damals von der Wand der KITA geholt und einfach mitgenommen. Hat glaube ich keiner bemerkt und vermutlich niemanden interessiert. Ich wusste damals schon, dass deine Blumenwiese eines Tages ein großer Erfolg wird«, schmunzelte sie, strich ihr liebevoll die Tränen von den Wangen und wendete sich erneut den Gästen zu.
Florentina wusste, weshalb sich Eylin so schnell wegdrehte. Ihr Stolz verbot ihr, Tränen der Rührung zu zeigen. Das konnte sie sehr gut verstehen. Bereits ihr ganzes Leben lang bewunderte sie Eylins Stärke. Es erfüllte sie mit Wärme, dass es in ihrem Leben einen Menschen gab, der sie so bedingungslos liebte. Das kribbelnde Gefühl auf ihrer Haut, das die wohlwollende Kritik der Betrachter ihrer Kunst hinterlassen
hatte, war für sie nach so langer Zeit noch immer spürbar. Und es sollte nicht die letzte Galerie bleiben, die Florentina die Ehre erwies, ihre Bilder auszustellen.
»He, Florentina! Ich habe dich etwas gefragt!«
Erschrocken und peinlich berührt sah sie erneut auf und in das verdutzte Gesicht der Brautjungfer, die ihr vermutlich in den letzten Minuten jede Sekunde der bevorstehenden Hochzeit erklärt hatte. Lächelnd ließ sie Lisa noch einmal wiederholen, was sie zuvor verpasst hatte.
»Florentina, darf ich dich etwas fragen?« Lisas Gesicht sprühte vor Neugier. »Du hast mir nie erzählt, wo dir dieser Supermann über den Weg gelaufen ist.«
Lisas naive Neugier brachte sie zum Lachen. Bisher hatte sie noch mit niemandem, außer Eylin, ernsthaft über ihre Beziehung mit Leander gesprochen. Dennoch tat sie Lisa den Gefallen, lehnte sich zurück, schloss die Augen und begann zu erzählen. Bereits nach wenigen Sätzen überflutete sie ihr Gehirn mit Bildern des Tages, an dem ihr Märchen begann. Mit Hilfe ihrer Worte kehrte sie zurück in das Bahnhofsbistro - einer der merkwürdigsten Orte, den sie je kennengelernt hatte.
Inzwischen hatte sie ihr Kunststudium erfolgreich abgeschlossen. Eine Stelle war nicht in Sicht und deshalb hielt sie Franz Blumberg und seinem Bistro noch immer die Treue.
An einem grauen Herbsttag - ein Abend wie viele - kroch plötzlich ein seltsames Gefühl unter ihrem Haaransatz entlang. Erst bei ihrer zweiten Runde durchs Bistro erkannte sie den Grund hierfür. Ein großer Mann mit rotem Haar saß am Tisch Nummer vier, kerzengerade und unbeweglich wie eine Schaufensterpuppe. Der Platz, den er gewählt hatte, konnte einen Menschen vor der grauen Wand unsichtbar werden lassen. Sein Blick, der ihr in jede Richtung folgte, schien sich für alle Zeiten an ihrem Körper festsaugen zu wollen. Zunächst nahm sie ihn
nur flüchtig wahr. Aber irgendwann spürte sie seine Augen bis unter ihre Haut. Dann ging er - ohne ein Wort - kein Lächeln und als er die Tür hinter sich zuwarf, erschrak sie. Noch Stunden später glaubte sie,
seine Augen hinter sich im Spiegel erkennen zu können. Selbst unter der Dusche ließ sich dieses Gefühl nicht vertreiben. Sie versuchte, ihren Schwamm dazu zu überreden, diesen eingebrannten Blick abzuwaschen - jedoch ohne Erfolg.
Müsste mir das, was ich fühle nicht korrekterweise Angst machen?
Fragend verfolgte sie die verträumten Blicke ihres Spiegelbildes und schlang mit geschickter Hand das Handtuch um die nassen Locken.
Nein, macht es nicht, legte sie trotzig fest. Und ich finde ihn aufregend!, gestand sie dem frechen Gesicht im Spiegel.
Von nun an wiederholte sich dieses Spiel an jedem weiteren Mittwoch - zwei Monate lang und immer war es das Gleiche. Florentina war nicht schüchtern und keinesfalls auf den Mund gefallen. Doch dieser Mann verstand es, ihr nur mit seinen Augen Romane zu erzählen und so gelang es ihm, sie ein ums andere Mal sprachlos zurückzulassen.
Allmählich machte sie die Situation wütend. Trotzdem hütete sie sich, jemandem etwas von ihrer Aufregung zu erzählen. Nur ein Blick in die verträumten Augen ihres Chefs waren ihr Warnung genug. Wieder war es ein Mittwoch - sie stand an seinem Tisch mit dem bestellten Sandwich und Espresso - wie gewohnt. Rote Wangen und mit klopfendem Herzen - so laut, dass er es hätte hören müssen und dann geschah das, was sie nicht mehr für möglich gehalten hatte.
»Entschuldigen Sie...«, fragte er, »...haben Sie heute Abend noch etwas vor? Ich würde Sie gern zu einem Drink auf meinen Landsitz einladen!«
Was soll denn das? Sie zögerte und reihte jeden einzelnen Buchstaben hinter ihrer Stirn noch einmal aneinander. Kein Zweifel, jedes Wort seines Satzes war korrekt und stand exakt an der richtigen Stelle.

Erst sagt er monatelang nicht ein Wort und jetzt lädt er mich auf seinen Landsitz ein? Was will der Typ von mir?, fragte sie sich irritiert.
Jede Zelle ihres schreienden Gehirns war wenige Sekunden später fassungslos. Es bewegten sich ihre Lippen. Die Worte, die sie formulierten, ließen ihren Geist in Panik geraten.
»Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete sie provozierend. »Wann holen Sie mich ab?«
Das freche Grinsen auf ihrem schmalen Gesicht veränderte sofort seine Ausstrahlung.
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, raunte er und kniff dabei seine Augen zusammen. »Ich beobachte Sie schon sehr lange. Sie wirkten auf mich nicht wie eine typische Kellnerin und Ihre freche Antwort bestätigt mir, dass ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe. Mein Angebot meinte ich ernst. Ich möchte gern mit Ihnen etwas trinken, hier oder wo immer Sie wollen.«
»Nun, Lisa«, beendete sie ihre Erzählung. »Dieser Abend liegt nun beinahe zwei Jahre zurück.«
Zufrieden mit Florentinas ausführlicher Beschreibung, die einen Hauch von Aschenputtel hatte, widmete sich Lisa erneut ihren Vorbereitungen. Beim Blick auf die verklärten Augen der Brautjungfer wurde sie nachdenklich. Leander verstand es noch immer, sie zu verblüffen. Dass er Geheimnisse hatte, wusste sie vom ersten Tag an. Bereits nach den ersten zwei Nächten in seinen Armen hatte sie sich keine Zweifel mehr erlaubt und jeglichen Argwohn leichtfertig bei Seite geschoben.
Bis heute redete sie sich ein: Ein erfolgreicher Chirurg, der obendrein noch fünfzehn Jahre älter als seine zukünftige Frau war, musste ein Vorleben haben. Warum er ihr bis jetzt nur wenig aus seiner Vergangenheit erzählte, konnte sie nicht sagen. Ihr Umfeld hingegen beobachtete den stillen, meist arrogant wirkenden Mann an ihrer Seite noch immer mit sehr gemischten Gefühlen. Jeder hatte sie gewarnt und nicht nur einmal.
Was, wenn sie recht haben?, fragte sie sich grübelnd.
Nachdem er sich gestern lieblos abwendete und neben ihr wieder einmal erschöpft eingeschlafen war, hatte sie ihn erneut nachdenklich betrachtet. Vielleicht habe ich einfach nur zu viel erwartet, redete sie sich schließlich ein. Er strahlte ein geheimnisvolles Flair aus. Das genügte gewöhnlich, um ihr Blut in Wallung zu bringen. Für Leander schien diese Tatsache jedoch selbstverständlich. Was war falsch daran? Jetzt, kurz vor der Hochzeit, fühlte sie sich zunehmend unsicher. Hilflos schob sie seine wenigen Emotionen, die er zeigte, auf Stress und die Aufregung über den neuen Lebensabschnitt, der vor ihnen lag.
Ich bin glücklich. Leander ist das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte.
Der Warnung in ihrem Inneren begegnete sie, wann immer es ihrem Unterbewusstsein gelang zu ihr vorzudringen, mit Trotz. Lisa hat recht. Alles wird gut. In wenigen Wochen bin ich Leanders Frau und alles andere wird sich finden.

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