The Black Rose - Verlangen

Kapitel 1

»Guten Morgen, mein Schatz!«

Polly stand lässig in der Tür und ließ ihren zärtlichen Blick zum Tisch wandern. Sie fand, die Küche war schon immer der schönstem Ort im ganzen Cottage. Langsam und noch ein wenig verschlafen durchquerte sie ihren Lieblingsplatz. Großmutter Therese saß sicher schon seit dem Morgengrauen am Tisch. Sie trat neben sie, beugte sich über ihre Schulter und seufzte wohlig. Dabei strich sie ihr sanft über die eingefallene Wange.

»Dir auch. Schön, dass du schon auf bist. Wie fühlst du dich?«

»Gut, mein Kind. Kaffee ist in der Kanne. Ich habe dir Sandwichs gemacht, stehen im Kühlschrank.«

»Aber Resi, ich kann mich selbst versorgen. Ich weiß doch, wie schwierig für dich jeder Wintermorgen ist.«

Immer, wenn sie ihre Großmutter im Rollstuhl beobachtete, konnte sie in ihrer resoluter Miene kaum den wahren Zustand erkennen. Brav schlenderte sie zur Küchenzeile, öffnete den Kühlschrank und holte den fertigen Teller heraus. Mit einem breiten Grinsen angelte sie ihre Lieblingstasse aus dem sandgelben Oberschrank und balancierte ihr Frühstück zum Tisch. Sie zog einen der dunkelgrünen Küchenstühle zurück und setzte sich. Dann sah sie auf und in ein ernstes Gesicht. Sie sagte nichts, auch wenn sie wusste, Therese würde sich nichts anmerken lassen. Ein Blick aus dem Fenster erlaubte ihr jedoch die Hoffnung, dass ihr das Rheuma heute Morgen etwas weniger Schmerzen bereitete. Die Sonne, die über die Wälder der winterlichen Highlands zog, schummelte sich durch die schmalen Scheiben. Sie wusste, Therese beobachte sie noch immer. Ihre Blicke trafen sich.

»Du wirst deinen Plan umsetzen?«

»Klar!«, antworte sie entschlossen und nippte an ihrem Kaffee.

Therese musterte ihre Enkelin und nickte anerkennend. »Ich habe dich schon mehrfach vor den MacGills gewarnt. Dass jetzt Ian der neue Earl im Schloss ist, macht die Angelegenheit noch komplizierter und gefährlicher.«

»Ich weiß«, stöhnte sie und lehnte sich nachdenklich zurück.

Therese war keinesfalls so zerbrechlich, wie es den Anschein machte. Obwohl, das stetig schlimmer werdende Rheuma ihren Tagesablauf bestimmte und dabei den Bewegungsradius immer weiter einschränkte.

»Hast du den neuen Earl schon einmal gesehen?«

Therese schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, was man hinter vorgehaltener Hand erzählt.«

Kurz schweiften ihre blauen Augen übers Küchenfenster. Im Raureif glitzerten neben einer liebevoll gestalteten Holzpergola die blattlosen Ranken einer kräftigen Kletterrose.

»Baxter MacGill und vor allem sein Bruder Sean waren durchtriebene Hunde.« Allmählich zog ein zartrosa Schimmer über ihre Wangen.

Als Therese vor dreiundsechzig Jahren Wien verlassen hatte, gehörte der Familie ihres Mannes Fraser das Cottage und die dazugehörenden Nebengebäude. Streng genommen sollte das weitläufige Land ebenso dazu gehören. So verlangte es das Gesetz, was in den Highlands nicht ungewöhnlich war.

»In Schottland gehört das Land zum Haus und daran hängt der Titel«, erklärte sie und holte Polly aus ihren Gedanken. »Verlierst du dein Land, so auch deine Vergangenheit!«

Cottage-Rose verband mit seinen Eigentümern eine dreihundert Jahre alte Geschichte. Das galt nicht nur für Haus, Hof und Garten. Hinter dem Wäldchen schloss sich der ganze Stolz der MacGlenns an. Seit vielen Generationen waren sie erfolgreiche Rosenzüchter. Eine ähnlich lange Ahnenreihe hatte die immer wieder preisgekrönte schwarze Rose - einzigartig und wunderschön. Der Ruhm und das Geld, was sie ein ums andere Jahr in die Familienkasse spülte, sicherte den heutigen Bewohnern das Dach über dem Kopf.

»Ich werde die Urkunde finden. Das verspreche ich dir. Wir müssen einfach!«

»Du bist wie deine Mutter. Genauso blond und dickköpfig.«

Polly grinste. Dabei strich sie verlegen durch ihr zotteliges Haar, das auch heute einigermaßen zerwühlt aussah. Wie einst Mutter und Großmutter, galt sie in diesen Breiten als Exotin. Die sportliche Wienerin mit ihrer smarten Figur wirkte alles andere als bodenständig. Ein unersetzbarer Vorteil für ihre gewagten Pläne.

Eine Stunde später war sie auf dem Weg zu den Gewächshäusern. Jetzt, Ende Januar, fegte ein eisiger Wind über das offene Land. Mit eingezogenem Hals ging sie über die im Sonnenlicht glitzernde Holzbrücke hinunter zum See. Der weite grüne Horizont erlaubte es ihr, jedes Wetter als angenehm zu empfinden. Inzwischen war es zehn Uhr. Außer dem säuselnden Wind herrschte eine beruhigende Stille. Das kleine Cottage mit seinen verspielten Erkern war das einzige Haus weit und breit. Zwei Monate vor seinem plötzlichen Tod hatte Großvater Fraser die Fassade mit hellen Farben streichen lassen. Das in Aquarellfarben schimmernde Blau um Fensterlaibungen und Eingangstür hob sich von dem tiefen Dunkelgrün in der Ferne ab. Der Kiesweg, dessen zarte Grashalme von einer gesprenkelten weißen Schicht überzogen waren, bog auf eine weite Lichtung ein und mündete im Eingangsbereich der Farm. Schon beschleunigte sie ihren Schritt. Sie passierte ein schlichtes Holzschild mit der einladenden Aufschrift: ’Welcome to Farm Black-Rose’. Hinter der Ecke zum vordersten Gewächshaus schimmerte Oskars rote Mütze. Pollys Blick blieb an der schlaksigen Figur ihres irischen Mitarbeiters hängen.

Seit gut fünf Jahren gehörte der fünfundzwanzigjährige Mann zur Farm. Damals war er, planlos auf der Suche nach einer Bleibe, durch die Weiten der Highlands gepilgert. Wo er Arbeit gefunden hatte, blieb er für eine Weile. Dann war er, ähnlich einem freien Wanderarbeiter, weitergezogen. Wenig gebildet und mit schlechten Manieren galt er nicht gerade als Aushängeschild für die erfolgreiche Farm. Doch sie hatten keine andere Wahl. Schon bald stellte sich heraus, Oskar hatte trotz allem ein einfühlsames Händchen für die zarten duftenden Geschöpfe auf dem Feld und unter Glas. Ein Gespür für die raue Natur zu haben und deren Zeichen deuten zu können, ließ ihn stets die richtige Entscheidung treffen. Unweigerlich wanderten Pollys Gedanken in die Vergangenheit. Seit sie zum ersten Mal ihren Fuß auf das wunderschöne Fleckchen Erde des Distrikts Ross and Cromarty gesetzt hatte, glaubte sie sich in einem Nationalpark. Besonders dann, wenn die herbstliche Farbpalette zwischen den dunklen Tannen bunte Tupfer verstreute. Nichts von der unglaublich wilden Natur und seinem Anblick hätte Wien das Wasser reichen können. Von Beginn an hatte sie sich hier wohler gefühlt, als in der quirligen Metropole. Dabei war sie bei ihrer Mutter Sophie frei und sehr behütet aufgewachsen. Nur die Last auf ihren schmächtigen Schultern war für Polly stets allgegenwärtig gewesen. Mit Sophie hatte sich das Drama auf ‚Black-Farm‘ wiederholt.

Ein Blick in die Augen ihrer Großmutter genügte und sie ahnte die Macht der Einsamkeit, die dieses lange Leben begleitete. Dennoch schwieg Therese und ertrug ihr Schicksal. Polly kannte die Geschichte. Dass ihre Mutter damals überstürzt nach Wien, der Geburtsstadt Thereses aufgebrochen war, lag vor allem an den Eigenarten ihres Großvaters Fraser. Rau, wild und unnachgiebig wie seine Heimat hatte er aus seiner zarten Liebe zu der blutjungen Therese eine kalte und strenge Zweckbeziehung werden lassen. Sophie war nicht bereit gewesen, in der Einöde, wie sie es nannte, ihr Leben zu verbringen. Den lieblosen Alltag ihrer Mutter vor Augen, war das keine Zukunft, die sich das wilde Mädchen hatte vorstellen können. Obendrein wurde sie ungewollt schwanger und gab den Vater des Kindes zeitlebens nicht preis. Um sie und das Kind vor der Wut ihres Mannes zu schützen, hatte Therese sie nach Wien zu Verwandten geschickt. Erstaunlicherweise hatte sie Pollys Vater kurz vor Abreise in Gretna Green, dem berüchtigtsten Ort im wilden Schottland, geheiratet. Bis zu ihrem frühen Tod hatte sie verbissen am Geheimnis um seine Identität festgehalten. Vermutlich deshalb, weil sie sich, kaum in Wien angekommen, von ihrem Ehemann getrennt hatte. Der war unverzüglich in die Highlands zurückgekehrt. Allein der Nachnahme Strasser erinnerte an die kurze Ehe von Pollys Eltern. Somit hatte die Rosenfarm mit all ihren Traditionen ohne Nachfolger vor dem Ende gestanden. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Sophie erkrankte unheilbar und war bereits ein halbes Jahr später gestorben. Deshalb hatte die fünfzehnjährige Polly Wien verlassen müssen.

Die MacGlenns waren die einzige Familie, die sie noch hatte. Unerwartet war die so wichtige Erbin ins Cottage mit seinen wertvollen Rosen zurückgekehrt. Damals hatte sie außer verblasster Bilder weder Vorstellungen von ihren Großeltern noch von Schottland. Trotzdem verstand sie sich mit Therese praktisch von der ersten Minute an. Kein Wunder, schließlich glich sie ihrer Mutter wie ein Ei dem anderen. Ihr blondes kurzes, strubbeliges Haar erinnerte Therese an ihre eigene Vergangenheit. Die zarten Sommersprossen auf Pollys heller Haut versorgten sie jeden Tag mit liebevollen Erinnerungen an ihre Sophie. Tobte Polly aufgeregt durch die Plantage, dann schien ihr die Neugier den Weg zu weisen. Mit großen Augen, umrahmt von dunklen langen Wimpern, beobachtete der stille Teenager den stämmigen Fraser. Seine Rosen hatten es ihr sofort angetan. Ebenso hatte sie die wilde Idylle des Landes verzaubert. Schon einen Monat nach ihrer Ankunft war sie täglich an Frasers Seite gewesen. Nach wenigen Wochen hatte sich der stille Mann nach und nach verändert. Natürlich hatte er das nicht zugegeben.

Es war jedoch offensichtlich und der einzige Trost in Thereses hartem Alltag gewesen. Schon früh waren sie mehr als Großmutter und Enkelin. Heute sah Polly in ihr das Wichtigste und Wertvollste der Welt. Ein Grund, weshalb sie die Neunundsiebzigjährige jetzt liebevoll Resi nannte. Unabhängig davon hatte sie sich für ein Studium in Wien entschieden. Seit zwei Monaten hatte sie ihren Abschluss in der Tasche. Keinen Tag zu früh. Die Ereignisse hatten sie schneller als gedacht nach Schottland zurückgebracht. Vor einem halben Jahr war Fraser einem Herzinfarkt erlegen. Seit dem furchtbaren Morgen war Therese allein mit Cottage und Farm zurückgeblieben. Die fortwährenden Schicksalsschläge hatten die Frauen noch enger zusammengeschweißt. Inzwischen liebte Therese ihre Rosen. Das war zugegebenermaßen nicht immer so. Aber mittlerweile konnte sie sich ein Leben ohne die duftende Pracht nicht mehr vorstellen. Die Angst, alles, was ihr hier wichtig war, verlieren zu können, hatte sich in ihrem Gesicht eingegraben. Für Polly war es eine Selbstverständlichkeit, für immer zu bleiben.

Gut, dass Fraser sein Wissen über die Jahre an seine Enkelin weitergegeben hatte. Als er erkannt hatte, wie ihre Augen glänzten, wenn sie auch nur ihren Blick über die blühenden Felder schickte, versuchte er es mit einem vorsichtigen Lächeln. Polly erinnerte sich noch sehr gut an die Zeit nach Frasers Beerdigung. Ein Abend, wie viele - kalt und einsam - das war indes ein paar Monate her. Sie hatten in der gemütlichen Stube vorm Kamin gesessen. Ihre Blicke versanken in der Glut. Eingewickelt in flauschige Wolle und die Hände gewärmt von einer heißen Tasse, hatte es eine Zeit lang gedauert, ehe Polly Therese bat, von ihrem Leben zu erzählen.

»Du bist die einzige Familie, die mir geblieben ist.« Bis zu diesem Moment hatte sie über ihre Vergangenheit hartnäckig geschwiegen.

»Bitte! Ich möchte mein Leben hier verbringen. Sollte ich da nicht wenigstens eine Ahnung von der Familiengeschichte haben?«

Therese hatte aufgesehen, in ihr entschlossenes Gesicht geblickt und seufzend nachgegeben.

»Alles begann im April fünfundvierzig ...« Ihre Augen verloren sich unverändert in den lodernden Flammen. »Es war furchtbar, die

Bomben fielen im Minutentakt ...« Wieder war eine Pause entstanden, während Polly sich nicht rührte. Das Drama um ihre Geburtsstadt war ihr geläufig. Schließlich hatte sie dort ihre Jugend verbracht. Therese räusperte sich.

»Die Gänge des Notlazaretts füllten sich. Irgendwann gab es keinen Unterschied mehr, von wo die Verwundeten kamen. Alle sammelten sich an diesem Punkt. Auf einer Trage direkt hinter mir, entdeckte ich einen jungen Mann mit tiefrotem Haar. Er war in einem schlimmen Zustand. Seine Uniform hing in Fetzen an seinem Leib. Der Arzt hatte nur einen flüchtigen Blick auf ihn geworfen und für tot erklärt. Es handelte sich ohnehin um den Feind. Sie wollten ihn einfach sterben lassen.  Ich wusste, dass das nicht stimmte. Vorsichtig schlich ich zurück und betrachtete ihn. Kaum berührte ich seine blutverkrustete Hand, da öffnete er seine Augen.« Ihrem verträumten Blick nach zu urteilen, waren ihre Großeltern zunächst glücklich. »Es war mir gelungen, ihn durchzubringen. Und das heimlich, nebenbei. Keiner durfte es wissen. Kollaboration mit dem Feind wurde schwer bestraft.«

Dass sich Therese immer wieder unterbrochen hatte, störte sie nicht. Zumal sie eine Ahnung von der leidvollen Geschichte des Paares hatte. »Dann kamen wir hierher, in seine Heimat. Es war eine gefährliche Flucht. Du musst wissen, ich habe deinen Großvater einst sehr geliebt. Wenigstens habe ich mir das in den folgenden sechzig Jahren stets eingeredet.«

Allmählich war aus dem lieblichen Lächeln ein verbissener Ausdruck geworden. »Nun ja, er hatte es schwer. Den verhassten Feind in ihre Mitte zu bringen und dann auch noch zu heiraten, das war einfach inakzeptabel für seine traditionsbewusste Familie. Sie wollten mich hier nicht haben. Tja, nun war ich aber einmal hier. Als sich deine Mutter ankündigte, gab es eine Art Waffenstillstand. Leider endete der mit ihrer Geburt. Ein Mädchen, blond und zart wie ihre österreichische Mutter? Kann man ihnen nicht verdenken, meine ich. Die MacGlenns fürchteten um den Fortbestand der alten Linie. Ohne einen Erben für Cottage und Farm ...«

Mehr hatte sie nicht gesagt. Das war auch nicht notwendig gewesen. Selbst jetzt, ein paar Monate später, konnte sie sich das Leben ihrer Großmutter, weit weg von zu Hause vorstellen. Sie hatte ihre Hand genommen, sie sanft gedrückt und gemurmelt.

»Jetzt bin ich ja da. Von nun an werden wir zusammenhalten, komme was wolle.«

»Polly, träumst du? Ich hoffe doch, von mir.«

Sie schreckte zusammen. Mit einem Meter siebzig war die inzwischen Dreiundzwanzigjährige etwas größer als ihre Vorfahren. Manch einer würde in ihr möglicherweise keine klassische Schönheit sehen. Die leuchtenden fast goldfarbenen Augen in ihrem sanften Gesicht versprühten jedoch etwas Geheimnisvolles. Völlig versunken hatte sie den sich nähernden Oskar nicht bemerkt. Blinzelnd sah sie ihm in die grünen Augen. Wie immer wirkte der hochgewachsene, beinahe dünne Mann ungepflegt. Sein wildes kupferrotes Haar hing in Strähnen aus seinem über der Schulter hängenden Zopf. Ungeordnet wie seine Kleidung lebte er in den Tag. Sie fand, er passte zum Land und seinen Eigenarten. Seit dem Tod Frasers waren sie sehr froh, zwei starke Arme in Haus und Farm zu haben.

Sie vertrauten ihm, ließen ihm seine Eigenarten und mischten sich nie in seine Privatangelegenheiten. Anfangs hatte er noch geglaubt, er könnte die neue Hausherrin herumkommandieren. Vermutlich genauso, wie es die Männer für gewöhnlich hierzulande als selbstverständlich ansahen. Doch der cleveren Polly war der seltsame Kerl nicht gewachsen. Gewohnt, frei zu entscheiden und dabei ihre Meinung klar zu sagen, hatte sie dem frechen Iren frühzeitig gezeigt, wo sein Platz war. Erstaunlicherweise hatte der sich widerspruchslos gefügt. Seitdem kamen sie gut miteinander aus.

»Was machen die Aussaaten?«, fragte sie und ging in Richtung Anzuchthaus.

»Alles perfekt, wir sollten nur die ’Lady Of Shalott’ im Auge behalten. Die gefällt mir nicht! Es sind zwar noch gut drei Monate ...«

»Ich weiß, was du meinst. Dann lass uns mal sehen.«

Sie drehte sich um und begleitete Oskar zum Gewächshaus. Ein süßer, aromatischer Duft umfing ihre Nase, noch ehe sie in den Beeten stand. Diesen Augenblick, gerade am Morgen, wenn die Blüten begannen, sich den auf das Glas treffenden Sonnenstrahlen entgegenzurecken, würde sie für nichts auf der Welt eintauschen wollen. Kerzengerade und dichtgedrängt standen die halbgeöffneten Blüten in unzähligen Reihen - ein einzigartiges Farbwunder. Vom Nebel morgendlicher Berieselung eingehüllt, brachen sich einzelne Wassertröpfchen auf den zarten Rosenblättern. Tief einatmend sog sie das einzigartige Aroma in ihre Lunge. Kein Parfüm konnte ihr das bieten.

Vorsichtig ließ sie die zarten Blüten durch ihre Finger gleiten, strich über sie hinweg und betrachtete sie aufmerksam. Der hinzugetretene Ire beobachtete sie amüsiert. Polly war das egal. Jeder dieser Momente erinnerte sie an ihren Großvater. Sehr früh hatte er ihr die speziellen Kniffe beigebracht, die in keine Fachliteratur zu finden waren. Mit beinahe dreihundert Jahren Erfahrungen in der Rosenzucht konnte sich kein Fachbuch messen. Sie hatte förmlich an seinen Lippen gehangen. Wie ein ausgetrockneter Schwamm hatte die junge Polly das geballte Wissen des alten Farmers aufgenommen.

»Du passt zu diesen Schönheiten«, hatte er einmal gesagt. Ein Kompliment, das er weder seiner Frau und noch weniger seiner Tochter entgegengebracht hatte.

Im greller werdenden Sonnenlicht, das über den Wäldern aufzog und sich dann im Glas der Gewächshäuser brach, spiegelten sich ihre Augen. Stets ein hinreißender Anblick, der selbst einem emotionslosen Mann wie ihrem Großvater ein ehrliches Staunen abgerungen hatte.

»Gut, ich werde mich darum kümmern«, nickte sie zustimmend und folgte Oskar durch die Rosenbeete.

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The Black Rose - Sehnsucht

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