Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute
Es fährt ein: IC 2029 von Hamburg Hauptbahnhof über, Bremen, Dortmund, Köln und Frankfurt am Main nach Nürnberg ...«
»Elvira, jetzt kommt er, endlich! So, ich nehme den Koffer. Achte bitte auf deinen Rollator ... «
Die rüstige Dame hakte die Freundin unter, schaute sich nervös um und trat unruhig von einem Bein auf’s andere. Im Allgemeinen traute sich die Vierundsiebzigjährige pummelige Roswitha derartige Unternehmungen durchaus zu. Aber diese Reise mit Elvira hatte sie vollkommen unterschätzt. Allmählich standen ihr vor Aufregung die Schweißperlen auf der Stirn. Doch sie lächelte, denn Elvira durfte unter gar keinen Umständen ihre Unsicherheit bemerken. Seit einem Jahr planten beide diese Reise. Immer wieder schrieb die Freundin aus Frankfurt.
Sie mussten sie unbedingt noch einmal sehen, denn mit jedes Jahr, was vergeht, würde ein solcher Besuch unwahrscheinlicher. Roswitha atmete schwer und schielte dabei vorsichtig nach der Freundin an ihrem Arm. Elvira war so konzentriert auf ihre Gehhilfe, dass sie vor Aufregung ihre Zunge unentwegt über ihre Lippen schob. Unwillkürlich musste Roswitha schmunzeln. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war. Sie wusste wovon sie sprach. Schließlich kannten sich beide seit fünfzig Jahren. Roswitha schweifte ab mit ihren Gedanken:
»1942 ... das wunderschöne Frühjahr ... der Park ... «
Plötzlich nahm sie aus der Entfernung den sich schnell nähernden IC wahr. Automatisch spannte sich jeder Muskel in ihrem Körper an.
»Wo wird er halten?«
Unruhig schaute sie an den vorbeifahrenden Waggons entlang und hoffte, dass einer von ihnen mit seinem Einstieg vor den Frauen zum Stehen kommt. Kurz ging ihr Blick über die unzähligen Köpfe rechts und links neben den beiden Abenteurerinnen. Sie spürte die Hitze, die sich in ihrem Gesicht immer weiter ausbreitete.
»Gib mir deinen Hut!«, strahlte Roswitha.
Die Erleichterung, die allmählich bei ihr ankam, konnte sie kaum beschreiben. Elvira saß selig in ihrem Sitz und tat, als wäre das gerade erlebte Abenteuer das Normalste von der Welt. Roswitha atmete tief durch und lächelte die zwei jungen Männer auf den Sitzen gegenüber begeistert an. Schnell hatten diese fröhlichen Jungen bemerkt, dass die beiden alten Damen links neben ihnen auf dem Bahnsteig, mit dieser Situation völlig überfordert schienen.
»Geben Sie mir Ihren Koffer!«, sagte der junge Mann mit den blonden Rastalocken und dem riesigen Rucksack auf dem Rücken.
Noch bevor die bereits nur noch langsam hörenden Ohren verstanden, was man von den Freundinnen erwartete, standen beide im Abteil. Der Rollator ordentlich zusammengeklappt, der Koffer in der Ablage, die Mäntel am Haken und die zwei staunenden Damen wurden auf dem Sitz verstaut. Die zwei jungen Männer erledigten in sekundenschnelle, was für Roswitha eine wochenlange Grübelei ausgelöst hatte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
»Fahren Sie auch bis Frankfurt?«
Die dunklen Augen des schwarzen Wuschelkopfs ihr gegenüber erinnerte Roswitha spontan an alte Zeiten. »Ja, wir wollen eine Freundin besuchen!«, erklärte Elvira stolz.
Hinter dem lausbübischen Lächeln des beinahe zwei Meter großen, schlanken jungen Mannes, konnte man ein Staunen erahnen. »Hoffentlich kommen wir auch so gut beim Aussteigen zurecht. Ohne Sie wären wir ziemlich hilflos gewesen!«
»Keine große Sache. Wir machen das jede Woche!«, warf der blonde Junge ein. »Ich bin Alvin und das ist Paul!«, strahlte der andere junge Mann und reichte den Frauen artig die Hand.
»Angenehm! Das ist meine Freundin Elvira und mich nennt man Roswitha!«
Beide Jungen sahen sich verblüfft an. »Das ist schon recht junger Mann! Wir waren nicht immer so unbeholfen in unserem Leben!«, schmunzelte Elvira. »Darf ich Sie fragen, wohin Sie unterwegs sind?« »Klar!«, sagte Paul.
»Wir wollen zum Flughafen Frankfurt und fliegen morgen nach Tokio. Wir haben eine vierwöchige Trekkingtour quer über die japanischen Inseln geplant.«
»So die deutsche Bahn will!«, fügte Alvin hinzu.
»Vier Wochen?« Elviras ungläubiger Blick ging von einem zum anderen.
»Sicher, sonst lohnt es sich ja nicht. Wir studieren Geographie und Geologie. Die Universität bot uns diese einmalige Studienreise an. So etwas muss man schließlich nutzen!«
Eine halbe Stunde später war jeder im Abteil mit sich selbst beschäftigt. Die Gespräche schliefen ein. Ebenso Elvira. Mit einem zufriedenen Lächeln um die Mundwinkel döste sie nun schon einige Minuten. Paul hatte Kopfhörer auf, hörte Musik und sein Blick verlor sich in der vorbeirauschenden Landschaft. Alvin hatte ein anderes Gerät auf dem Tisch. Wie man es nennt, wusste Roswitha nicht. Aber die Frage danach erlaubte sie sich nicht. Mit den Jahren verlor sie den Anschluss an den Umgang mit moderner Technik. Dabei war sie so lange es ihr die Erinnerung erlaubte, immer technisch interessiert und unerschrocken beim Ausprobieren aller Errungenschaften der neuen Zeit. Etwas wehmütig schaute sie den jungen Männern zu und beneidete sie um die Alltäglichkeit, welche diese Technik ihnen bedeutete.
Um nicht aufdringlich zu wirken, schickte sie ihren Blick durch das Abteil. Obwohl über dem Bahnsteig eine Unmenge von Köpfen ragten, verloren sich die Reisenden im Zug. Das Abteil war zwar nicht leer, denn beinahe jeder Platz war besetzt. Doch überfüllt wäre eine Übertreibung, würde man davon berichten. Nebenan saßen sich zwei Frauen gegenüber. Beide wirkten ebenfalls sehr beschäftigt. Die attraktive Blondine zur Rechten, die Roswitha auf etwa achtundzwanzig Jahre schätzte, war in einen Roman vertieft.
»Ich wette, sie ist Russin!«
Dabei lächelte sie über ihre eigene Beobachtung. Den Titel des Romans konnte sie nicht erkennen, obwohl die Buchstaben überdimensioniert groß waren, untypisch für moderne Literatur. Deshalb, und weil sie es erstaunlich fand, dass eine so junge Frau las und obendrein ein offensichtlich altmodisches und dickes Buch, versuchte sie die Art des Wälzers herauszufinden. Aber ihre Kenntnisse über das kyrillische Alphabet hielten sich leider in Grenzen. Als die junge Frau Roswithas aufmerksames Beobachten bemerkte, drehte sich die alte Dame beschämt zum Fenster. Doch wenig später folgten ihre Augen demselben Weg. Wieder wurde es bemerkt, doch die Leserin beließ es bei einem höflichen Lächeln und ließ Roswitha gewähren.
Doch diese konzentrierte sich bereits auf ihre Sitzgenossin gegenüber. Sie wirkte vollkommen vertieft und angestrengt arbeitend an einem vor ihr stehenden Computer. Man sah der Frau die Anstrengung an. Sie schien etwa vierzig Jahre alt und war alltäglich gekleidet mit Jeans und grauen Turnschuhen. Einzig, das quietschgelbe Tuch, das lose um ihren Hals hing, könnte einen aufmerksamen Blick auf sich ziehen.
Im Gegensatz zu der jungen Frau an der anderen Tischseite, von der man meinen könnte, sie sei zu »Heidis Topmodels« unterwegs. Bei diesem Gedanken musste Roswitha lächeln. Sie kannte sich vielleicht nicht mit moderner Technik aus. Was aber sonst an Neuigkeiten im Fernsehen und aus Zeitschrifte zu erfahren war, wusste sie sehr genau. So eine Zeitung hatte schließlich keine komplizierte Gebrauchsanweisung oder tausend Knöpfe. Doch das man mit diesem tragbaren Computer eine Menge tun kann, wusste sie natürlich.
»Wie hieß das Ding doch gleich?«
Ihr Enkel hatte ihr davon erzählt, als er ganz stolz seinen neuesten Spielstand der staunenden Großmutter vorführte. Aber was sie bei dieser Dame sah, zeugte von Ernsthaftigkeit und aufmerksamer Betätigung. Sie schien der Welt entrückt zu sein, denn vor wenigen Minuten eilte ein junger Herr des Servicepersonals durchs Abteil und nahm Getränkewünsche der Reisenden entgegen. Nach zweimaliger Aufforderung gab der junge Mann etwas erstaunt auf und ging weiter. Was sie schrieb, musste wohl ihre gesamte Aufmerksamkeit abfordern, weil sie so vertieft war. Wenn es nicht so neugierig und aufdringlich wirken würde, hätte Roswitha schon lange nachgefragt.
Leise stöhnend lehnte sich die alte Dame an ihr Kopfteil, wendete ihren Blick aus dem Fenster und bedauerte, an der modernen Zeit so wenig teilhaben zu können. Wie sie so ihren Gedanken nachhing, wurde ihr plötzlich bewusst, was sich vor dem Zugfenster zusammenbraute. Klar, man hatte den frühzeitigen Winter angekündigt, wie praktisch in jedem Jahr. Doch die dicken Schneeflocken, die offenbar von einem stark aufkommenden Wind wild durcheinander stoben, verhießen vielleicht keine ruhige Fahrt. Besorgt betrachtete sie den seltsam rosafarbenen Horizont, der mehr nach einem Aquarell aussah, als einem Dezembernachmittagshimmel.
Nun …, überlegte sie. Wir sitzen hier im Zugwarm und trocken und das Wetter wird sich schon beruhigen.
Noch bevor der IC endgültig stand, schauten sich die Reisenden verwundert an. Jeder dachte offenbar das Gleiche. Dieser Halt bedeutete nichts Gutes. Paul öffnete die Augen und stupste seinen Freud an. »Alter, nur gut das wir erst morgen fliegen. Als wenn ich es geahnt hätte. Schau mal raus!« Paul sah besorgt aus, was Alvin mit einem Lächeln abtat.
»Keine Panik. Was soll denn schon passieren?«
»Wir sind schließlich nicht im Orient-Express!«, warf Elvira ein.
Seit wenigen Minuten war sie wieder wach und bereit, sich an der beginnenden Aufregung zu beteiligen. Seltsamerweise zog sie mit der Bemerkung über den Orient-Express die Aufmerksamkeit der beiden Frauen von nebenan auf sich. Selbst die beschäftigte Schreiberin unterbrach kurz ihre Arbeit, schaute auf und blinzelte neugierig. Fragend sah Alvin die alte Dame an.
»Kennen Sie denn die Geschichte vom Morden im Orient-Express nicht? Nun, dann sollten Sie es lesen!« Elvira grinste den jungen Mann herausfordernd an. Dieser zog sein Smartphone hervor, tippte etwas ein und schmunzelte. »Ach, die Geschichte meinen Sie. Die kenne ich, habe ich auf ’stream’ gesehen.«
Paul lachte und wusste die ungläubige Geste Elviras zu überspielen. »Er meint: eine Art von Fernsehen, nur auf einem anderen Gerät.«
Augenblicklich war sich Alvin seiner modernen Sprache bewusst. Natürlich wusste er, dass ältere Menschen manchmal ein Problem damit haben. Schließlich hatte auch er Großeltern und als ungebildet konnte man seinen Großvater, Professor Otto Kramer, nun wirklich nicht bezeichnen. Er lebte einfach nur in einer anderen Zeit.
»Also, wenn ich mir dieses Wetter anschaue, sollten wir alle hübsch wachsam bleiben und das Abteil beobachten, damit uns der Mörder nicht entgeht!«
Alle begannen zu lachen. Auch die beiden Frauen von nebenan beteiligten sich nun an dem folgenden Geplauder. Auf diese überraschende Art erfuhr Roswitha von der Schriftstellerin und ihrer Tätigkeit am Laptop.
»Laptop! Genau, so heißt dieses Gerät. Nun, früher nahm man Papier und Bleistift, denn wer wollte immer eine schwere Schreibmaschine mit auf Reisen nehmen. Doch offenbar hat sich grundsätzlich an der Arbeit eines Autors kaum etwas verändert«, dachte Roswitha zufrieden beim Lauschen der Erzählungen.
Doch schon nach kurzer Zeit stürzte sich die Schriftstellerin wieder an ihre Arbeit und wirkte schnell genau so abwesend wie zuvor. Irgendwann sah jemand auf die Uhr.
»Wir stehen schon eine halbe Stunde! Warum das Servicepersonal nicht in der Lage ist, ihre Gäste mit einer Information zu ergötzen, bleibt ein ewiges Rätsel.«
Diese empörte Stimme, jedoch nicht ohne sarkastischen Ton, kam von einem Herrn mit großen stechenden Augen, der von seinem Platz aufstand und nervös im Gang auf und ab ging. Obwohl bereits an den Schläfen ergraut, wirkte er hoch attraktiv. Die klugen Augen verliehen dem Mann eine Aura, die seine gehobene Aussprache noch unterstützte. Früher hätte man ihn als einen feinen Herrn aus gutem Hause bezeichnet.
»Vielleicht ist er ein Arzt, oder Professor?«, grübelte Roswitha. »Nun, auch solche Menschen kann ein Mangel an Informationen aus der Ruhe bringen.«
Ein beleibter Mann mit hochrotem Kopf und nervösem Blick betrat das Abteil. Die Weste seiner Bahnuniform spannte sichtlich über dem runden, hervorstehenden Bauch. Der Schweiß stand ihm vor Aufregung oder Anstrengung, vielleicht auch von jedem etwas, auf der Stirn, denn was er zu sagen hatte, stieß in keinem Abteil auf Begeisterung. Vor etwa einer Stunde war zirka einen Kilometer vor dem stehenden IC eine Schnee- und Schlammlawine abgegangen. Dummerweise befanden sie sich auf einer eingleisigen Strecke in einer unwegsamen und schlecht erreichbaren Gegend, so dass mit einem schnellen Fortkommen wohl nicht zu rechnen war.
»Orient-Express!«, sagte Elvira mit erhobenem Zeigefinger.
Alle sahen sie entgeistert an. Es war ihre Art, scheinbar unbeteiligt zu wirken, jedoch genau im richtigen Augenblick mit einem guten Einwurf um die Ecke zu kommen. Anders als erwartet, wusste beinahe jeder, was sich damals in dem legendären Zug zugetragen hatte. Eine eigenartige Stimmung breitete sich unter den Menschen im Abteil aus. Einige standen nun ebenfalls auf und liefen planlos im Gang herum. Dabei schauten sie aus den anderen Fenstern, in der Hoffnung, einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen - nicht unerwartet - blieben diese unerfüllt.
Eine weitere Stunde geschah nichts. Dann plötzlich kam der sichtlich überforderte Bahnmitarbeiter und verkündete, dass der Grund für die spärliche Aufklärung außerhalb des IC zu suchen wäre. Deshalb machten Durchsagen seitens des Personals derzeit keinen Sinn. Aber man bemühe sich, in absehbarer Zeit den Stand der Dinge herauszufinden und für eine baldige Lösung zu sorgen.
»Eh, haben die kein Smartphone?«
Paul nahm sein Telefon und runzelte die Stirn. Für Roswitha war es unverständlich, mit wie viel Fingerfertigkeit die jungen Leute diese Aufgabe bewältigen. »Oh, oh!«, sagte er. »Hast du ein Netz?«
Nervös drehte er sich zu Alvin. Der schüttelte seinen Kopf. »Das sieht gar nicht gut aus. Da muss was größeres im Gange sein. Das betrifft nicht nur uns.«
Er stand auf und ging zu dem vermeintlichen Model hinüber. »Versuchen Sie es bitte einmal.«
Sie lächelt ihn besorgt an, musste dann aber feststellen, dass auch sie über keinerlei Internetverbindung verfügte. Paul ging in den Gang und rief: »Entschuldigen Sie. Hat jemand von Ihnen ein Netz?«
Eine betretene Stille erfasste das gesamte Abteil, als allen klar wurde: Sie befanden sich jenseits einer Verbindung mit der Außenwelt.
Offenbar ein beängstigender Zustand für die modernen Menschen von heute, grübelte Elvira.
Der aufgeregte Gesichtsausdruck der jungen Leute um sie herum, ließ keinen anderen Eindruck zu.
»Es wird Zeit etwas zu unternehmen!«, murmelte Roswitha.
Elvira sah sie fragend an. Sie hatte die Freundin nicht verstanden. Doch diese war bereits mit den Gedanken auf einer Mission. Aufmerksam beobachtete sie die Schriftstellerin in der Nachbarsitzgruppe. Von der allmählich aufkeimenden Panik, die unaufhaltsam einen nach dem anderen im Abteil anzustecken schien, bekam sie nur wenig mit. Denn nach dem Geplauder mit den alten Damen gegenüber vertiefte sie sich wieder in ihre Arbeit. Nichts würde sie vermutlich aus der Ruhe bringen.
War sie denn mit ihren Gedanken sosehr gefangen in der Welt, die sie gerade schuf? Noch darüber nachdenkend, brachte dieser Anblick Roswitha auf eine Idee.
»Junge Frau! Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?«
Und richtig, die fleißige Schreiberin schaute erschrocken auf und innerhalb von Sekunden nahm sie die Unruhe in ihrer Umgebung wahr. Von dieser wurde sie bisher offenbar noch nicht erfasst. Es dauerte einige Zeit, bevor sie die Situation richtig einzuordnen begann. Eine derartige Hingabe in das eigene Werk, ließ Roswitha kurz vergessen worum es ihr ging. Staunend sah sie in das erwartungsvolle Gesicht der Mitreisenden. Sie lehnte sich zurück, schaute jeden an und sagte:
»Verzeihung, ich habe Sie nicht richtig verstanden. Ich bin immer sehr abwesend, wenn ich schreibe.«
Nicht zu wissen, was vermutlich seit einiger Zeit um sie herum geschah, ließ die Frau rote Wangen bekommen, verlegen lächeln und verstummen.
»Machen Sie sich bitte keine Sorgen! Ich wollte Sie nur etwas fragen«, beruhigte Roswitha die aufgeregte Nachbarin.
Nun begann ein wüstes Stimmengewirr. Jeder der aufgekratzten Mitreisenden im Abteil bemühte sich, der noch immer ahnungslosen Frau, die ihrerseits mit jedem weiteren Satz immer weniger verstand, die Situation zu erklären. Das war durchaus gut gemeint. Doch leider sprachen alle durcheinander. Ein kurzer Pfiff des netten graumelierten Herrn aus der nächsten Sitzgruppe beendete das Stimmengewirr.
»Entschuldigen Sie! Bitte sprechen Sie nacheinander. Man kann doch sonst nur schwer verstehen, was gesprochen wird. Danke.«
Roswitha stand auf und strahlte den Herrn zufrieden an, wobei sie seine korrekte Aussprache bewunderte. Dabei war zu vermuten, dass er seinen deutlichen Akzent verbergen wollte.
Ist gar nicht nötig, dachte sie.
Langsam schob sie sich vorbei an dem zusammengeklappten Rollator in den Gang, damit alle sie sehen konnten. Es schien ihr sehr wichtig und es machte sie keineswegs verlegen, im Gegenteil. Schon 1944, in den schlimmsten Bombennächten, bewies sie einen klugen Verstand und eine natürliche Begabung, eine Gruppe verängstigter Mitmenschen zu beruhigen und durch eine vermeintliche Katastrophe zu führen. Diese Fähigkeit begleitete sie ihr Leben lang. Als geübte Krankenschwester, Seelsorgerin in der Diakonie und bei den vielen ehrenamtlichen Aufgaben, denen sie sich nach ihrer Pensionierung mit Hingabe widmete. Sie sah es inzwischen als ihre Pflicht an, jetzt etwas gegen die allgemeine Unruhe zu unternehmen. Dabei war von Ruhestand in diesem entschlossenen Gesicht keine Spur zu erkennen.
»Vielen Dank, junger Mann! In Ordnung. Ich bitte Sie der Reihe nach zu erklären, was jeder von Ihnen vermutet, warum wir in dieser Lage sein könnten.«
Tatsächlich funktionierte diese klare Anweisung. Nachdem alle ihre Vermutungen kundgetan hatten, auch die Aussagen des Servicepersonals berücksichtigt wurden, kam man zu folgendem Ergebnis:
»Fakt ist ... «, sagte Alvin » ... wir haben seit etwa einer Stunde kein Internet. Das Bahnpersonal steht per Funk mit der Leitstelle in Verbindung, was allerdings bisher auch kein Licht ins Dunkle brachte. Deshalb liegt die Vermutung nahe, es handelt sich um ein größeres Problem, dass mit unserem IC im Grunde nichts zu tun hat. Wenn ich nach draußen schaue, wird klar: nur ein extremes Wetterereignis kann die Ursache hierfür sein.« Offenbar zufrieden mit seinem Auftritt verstummte er.
»Vielen Dank, Alvin!« Nun wollte Roswitha wieder das Zepter übernehmen. »Ich meine: lange kann das hier nicht dauern, denn schließlich sind wir nicht im Orient-Express im weit entfernten Jugoslawien.«
Alle sahen Elvira an. Von Unglauben bis zum erschreckten Erstaunen war in den vor Aufregung glänzenden Gesichtern der Mitreisenden beinahe jede mögliche Emotion zu sehen.
»Eigentlich ist ja das Personal für das Mitteilen von Informationen zuständig.«, bestätigte das Model. »Sicherlich, jedoch ein wenig Ablenkung könnte allen bis dahin helfen.«
Roswitha hatte den Satz kaum beendet, da begann das Licht zu flackern. Sofort brauste das besorgte Gemurmel im Abteil wieder auf. Wie damals, schoss es Roswitha durch den Kopf. Einen kurzen Blick zur staunenden Freundin bestätigte ihre Annahme. Egal, wie viele Jahre vergehen werden, wie viel moderne Technik dem Menschen zur Verfügung steht, am Ende ist der Mensch nur eines: hilflos.
»Junge Frau, ich habe eine Bitte ... «, begann sie. »Gern, wenn es in meiner Macht steht. Worum geht es?«
»Sie sind, wie ich vermute eine engagierte, erfolgreiche Schriftstellerin und Sie arbeiten an einem Text. Ob Sie uns von dem, was Sie so zu Papier bringen, etwas vortragen könnten? So zum Ablenken, meine ich.«
Erstaunt sah diese Roswitha an und etwas verunsichert sagte sie: »Ja, gern!« Das leichte Zögern kam von dem Gedanken, ob die Leute das, was sie schreibt
interessieren würde. Doch Roswitha ließ sich nicht beirren. Sie wusste aus Erfahrung: Ablenkung und Beschäftigung hält die Menschen ab von Hysterie und unüberlegten Handlungen.
»Nur zu, ist doch egal. Die Hauptsache, wir haben etwas zu tun. Wer nicht zuhören möchte, kann sich ja in seinen Sitz zurückziehen.«
Nun drehte sich die Schriftstellerin zur Seite, kramte in der Laptoptasche und brachte ein bereits etwas mitgenommenes Manuskript hervor. In dem Augenblick, als sie sich kurz räuspert und den Rücken streckt, gerade so, als müsste sie vor versammelter Schulklasse ihren letzten Aufsatz vortragen, drehten sich andere Reisende im Abteil zu dem Geschehen im vorderen Bereich des Waggons, um teilzuhaben an der nun doch gern angenommenen Ablenkung.
»Kommen Sie nur«, forderte Elvira die sich neugierig
Umschauenden auf und wies ihnen freundlich lächelnd mit der Hand den Weg zu den vorderen Plätzen. Und tatsächlich setzten sich einige in Bewegung, augenblicklich herrschte Stille und die Schriftstellerin begann.
»Nun, mein neues Buch, an dem ich arbeite, ist noch am Anfang. Zunächst sammle ich Ideen und weiß heute noch gar nicht, wohin die Reise führen wird. Eine Erzählung habe ich aber soweit, dass ich sie vorlesen kann.«
»Wie wird Ihr Buch heißen?« Der Herr mit dem bezaubernden Lächeln und exotischen Akzent wirkte sehr interessiert.
»Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute«
»Oh, das ist aber sehr speziell! Da kann man ja hineininterpretieren, was immer einem einfällt. Das finde ich spannend!« »Danke schön! Zunächst ist es aber noch ein Arbeitstitel, denn im Grunde soll es ja eine Geschichtensammlung werden.«
»Ähm ... Entschuldigung«, meldete sich Alvin. »Was bitte, ist eine Trabant-Tür?«
Einige begannen zu lachen. Der graumelierte Herr beantwortete schmunzelnd die für einen so jungen Mann durchaus verständliche Frage.
»Also, ein Trabant ist oder war ein PKW. Hergestellt in der ehemaligen DDR. Klein, robust, leicht zu reparieren und für die Menschen in diesem Land damals ein Heiligtum. Mein Onkel fährt heute noch eine solche ’Pappe’, wie man dieses Gefährt liebevoll nannte.«
»Aha, sagt mir nichts. Aber okay, jetzt habe ich eine Vorstellung. Danke.«
Etwas peinlich berührt zog er seinen Kopf ein, denn er hatte längst das Grinsen seines blonden Freundes gesehen, der sich königlich auf seine Kosten amüsierte. »Alter, du hast das natürlich gewuss!«, empörte er sich kopfschüttelnd.
»Na, dann wollen wir mal hören. Nur Mut, wir sind alle sehr gespannt.«
Ermunternd tätschelte Elvira Alvins Hand und erlöste ihn damit von der peinlichen Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Alle Augen richteten sich nun auf die Schriftstellerin, die mit heißerer, bebender Stimme zu lesen begann.