Kommissar Schäfer und die Tote im Felsentheater
Prolog
Zügig schritt Sonderermittler Carsten Melzer in den Konferenzraum. »Und Sie sind sich sicher?«, fragte er angespannt in die Runde.
Sein Gesicht verdunkelte sich wie die Wolke vor dem Fenster, die den nächsten Regenguss ankündigte.
»Herr Maybaum wird in wenigen Minuten da sein«, versuchte der Kommissar zu schlichten.
Seit gut einem halben Jahr existierte die Ermittlungsgruppe China-Time. Es war ihnen gelungen einen V-Mann einzuschleusen, ungewöhnlich genug, was bei jedem erfahrenen Ermittler Misstrauen geradezu heraufbeschwor. Melzer setzte sich schwerfällig und starrte in die angespannten Gesichter am Tisch. Bevor noch jemand reagieren konnte, knarrte die Tür.
»Aha, perfekt, Manfred, kommen Sie!«
»Ich hoffe, dass wir nicht zu lange brauchen. Ich ...«
Melzer unterbrach ihn sofort. »Mir gefällt die Entwicklung ebenso wenig wie Ihnen, das dürfen Sie mir glauben.«
Manfred Maybaum fixierte den ernsten Blick des Sonderermittlers. »Gut, dann lassen Sie hören.«
»Ich möchte Ihren Erfolg keinesfalls schmälern.« Maybaum stöhnte, was Melzer ignorierte. »Dennoch bin ich der Überzeugung, dass es nur zwei Gründe für den schnellen Erfolg geben kann. Entweder gibt es innerhalb der Organisation interne Machtkämpfe, die für die anvisierte Lücke im System sorgten. Oder wir sind sehenden Auges in eine Falle getappt.«
»Haben wir mit einer Falle, wovon ich ganz und gar nicht überzeugt bin, ein Problem?«
Maybaum legte es auf eine offene Konfrontation mit dem Hessischen Sonderermittler an. Immerhin waren sie zum ersten Mal seit Gründung der Gruppe der Mafia-Familie sehr nah. Ob es darüber hinaus zur Zerschlagung des Händlerrings kommen würde, schloss er inzwischen ebenfalls aus. Allenfalls verzichtbarer Hintermännern habhaft werden, mehr erlaubte ihm seine Spürnase ebenso wenig. 5Im Augenblick war er jedoch weit davon entfernt, seine Zweifel mit einem der Männer im Raum zu teilen. Schließlich war er derjenige, der in der Schusslinie stand.
Die kurze Stille nutzte Melzer um nachzudenken. »Wenn uns die jetzige Lage dabei hilft, die Fährte in Richtung Europa zu behalten, dann vermutlich nicht. Wir müssen trotzdem eines bedenken: Sollte etwas schiefgehen, sind wir möglicherweise nicht schnell genug. Da stellt sich die Frage: Ist das Abtragen der Eisbergspitze das Risiko wert?«
Herausfordernd schickte er seinen Blick von einem zum anderen. Manfred Maybaum platzte fast vor Wut.
»Dass es einzig der nahen Verbindung zu den Entführern zu verdanken ist, dass wir die fünf Mädchen aus dem Sumpf holen konnten, zählt dabei natürlich nicht.«
Es bereitete ihm inzwischen Mühe, dem Chef den nötigen Respekt entgegenzubringen. Sein hochrotes Gesicht leuchtete förmlich. Melzer hob beschwichtigend die Hände.
»Darum geht es im Augenblick nicht und das wissen Sie auch. Fakt ist, seit Mellinger gestellt ist, fehlt ihnen ein Mann mit entsprechenden Verbindungen. Es wird wohl nicht lange dauern, bis sie den ersetzt haben.«
Jeder Blick hing erstarrt an seinen Lippen. Er beugte sich zum Tisch, um ein paar Bögen Papier in die Hand zu nehmen. »Für mich sieht es so aus, als verlagerten sie ihre Aktivitäten in Richtung Osten.«
»In die Provinz?«
Der Beamte gegenüber starrte ihn fassungslos an. Wie ferngesteuert hing Sekunden später jeder Blick an Maybaum Melzer reichte ihm die Papiere. Maybaum vertiefte sich darin und blickte dann auf. Seine Augen verfingen sich an den Zweigen der sich im Wind biegenden Pappel. Völlig abwesend konnte jeder den Informanten denken hören.
»Leider geht hieraus nicht hervor, wohin. Soweit ich weiß, kommen da einige neue Bundesländer infrage.«
Melzer nickte. »Vielleicht gelingt es Ihnen, sich an die Fersen der nach Abgeschiedenheit suchenden Mitglieder unserer Bande zu hängen.«
»Die Möglichkeit, dass sie sich zunächst still verhalten und ihre Wunden lecken, schließen Sie aus?«
»Nein, natürlich nicht. Es gibt vieles, was dafür spricht. Mellinger ist ein Mann mit weitreichenden Verbindungen zur Frankfurter Bankenszene. Ohne den werden die Geschäfte vermutlich etwas schwerfälliger werden. Ein Grund, warum ich glaube, ganz gleich wo sie neue Jagdgründe beziehen, braucht es einen wie Mellinger, den sie hervorragend manipulieren können und im Notfall einfach fallen lassen. In jedem Fall verzichtbar, oder?«
Maybaum strich sich über sein unrasiertes Kinn. »Gut, dann geht die Party also weiter. Da bin ich Ihrer Meinung. Die Geschäfte brachliegen lassen, ist auch für die keine Option. In Ordnung, ich werde mich für den Osttrip an richtiger Stelle empfehlen.«
»Bleiben Sie wachsam, Kollege. Das ist kein Haufen von harmlosen Dealern oder Kleinkriminellen.« Erneut verfärbte sich Maybaum, worauf Melzer einlenkte. »Dann sind wir uns einig.«
Manfred nickte kurz in die Runde und erhob sich. Melzers Blick hing noch einen Moment an der stämmigen Figur des Kollegen, der gerade den Raum verließ. Stühle scharrten. Melzer drehte sich zum Fenster. Nur Sekunden später sah er Maybaum, wie er mit eingezogenem Hals ein Taxi bestieg.
»Deinen Optimismus möchte ich haben, lieber Kollege«, brummte er und folgte seinem Team hinaus.
Kapitel 1
Mit rasselndem Geräusch erstarb der Motor. Ein letztes Mal quietschte der Scheibenwischer über die angetrocknete Windschutzscheibe. Abwesend drehte Roland Schäfer den Wagenschlüssel in der Hand. Sein Blick hing ungläubig an einem Fachwerkhäuschen. Stöhnend öffnete er die Tür und quälte sich behäbig aus seinem Sportsitz.
»Nehmen Sie die tiefergelegte Ausführung. Die passt zu Ihnen und gibt Ihnen Klasse.«
Jedes Mal, wenn er aus seinem Mercedes CLA kletterte, hätte er den Verkäufer ohrfeigen können. Der hatte es verstanden, seinem glattgebügelten Ego zu schmeicheln. Ein kurzes Blinzeln auf die sich öffnende alte Holztür genügte, um in der Absurdität dieses Bildes zu verharren.
»Sie müssen der Kommissar sein!«, holte ihn eine weibliche Stimme aus seiner Lethargie.
Was soll denn das?, dachte er, noch ehe er sich in seine gewohnte Erhabenheit zurückziehen konnte.
Eine kleine, ziemlich robuste Frau kam auf ihn zu. Dabei wippte ihr mächtiger Busen unter einer bunten Schürze. Er kam nicht umhin, sie anzustarren. Mit rosigem Gesicht baute sie sich vor ihm auf.
»Haben Sie sich verfahren? Ich warte bereits eine geschlagene Stunde!«
Er öffnete seinen Mund. Seine Empörung loszuwerden, gelang ihm nicht. Ihr Kopf bewegte sich in seine Richtung, sodass er abrupt einen Schritt nach hinten trat. Die gewaltige Pfütze hinter ihm verschlang seinen wuchtigen Fuß. Sofort schwappte kaltes schlammiges Wasser in das edle Leder und durchnässte seine Luxussocke. Die Wut, die sich ähnlich einer aufsteigenden Magmasäule in ihm aufbaute, herauszubrüllen, musste warten.
»Ich bin Marianne Gruber, ihre Hauswirtin!« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte sie sich um.
Ihr Watschelgang, der vermutlich ihren strammen Oberschenkeln zuzuschreiben war, machte ihn sprachlos. Wie ein begossener Pudel trottete er hinter den grünen Blättern auf ihrer wehenden Kittelschürze her. Kaum an der Tür angekommen, fuhr sie ihn an.
»Ziehen Sie um Gottes willen Ihre schmutzigen Treter aus! Ich dulde keinen Schmutz in meinem Schmuckstück!«
»Schmuckstück?«
»Haben Sie etwas gesagt?«
In ihren blauen Augen standen giftige Blicke, während sie aufbrausend die Arme in ihre breiten Hüften stemmte. Beschwichtigend hob Roland die Hände.
»Keine Aufregung, Frau Gruber.«
Dabei versuchte er, sich möglichst ohne nach vorn überzukippen, seinen Schuhen zu nähern. An ihrer strafenden Miene erkannte er, was sie dachte.
Na, die muss sich gerade beschweren, maulte er tonlos und presste seinen großen Zeh gegen die Hacke des linken Schuhs.
Mit hochrotem Kopf folgte er ihrer zeigenden Hand, die seinem teuren Schuhwerk den Platz zuwies. In Strümpfen, wobei selbst die nicht mehr sauber waren, nachdem er seinen Fuß derart traktiert hatte, ging er den Flur entlang. Jeder Schritt verursachte ein schmatzendes Geräusch. Das ist doch alles nicht wahr, dachte er. Sein Ego erinnerte ihn empört daran, wer er war und wem er gegenüberstand. Sein Anstand verlangte, sich zunächst abwartend zurückzuhalten. Angesichts des Zorns in seiner Brust entwickelte sich die irrwitzige Situation allmählich zu einem unrealistischen Traum.
Kein Traum, ein absurder Alptraum! Weitere Gedanken fand er nicht.
Trotzdem versuchte er es erneut. »Also, darf ich mich vorstellen?«
Er richtete sich in voller Größe auf. Seine ein Meter achtzig überragten Marianne bei Weitem. Doch was ihrem Körper an Länge fehlte, glich ihr Umfang wieder aus. Und der wirkte durchaus bedrohlich, was ihn verblüffte. In seiner mehr als vierzigjährigen Ermittlerkarriere hatte er es mit einigen seltsamen Typen zu tun gehabt. Da sollte er zumindest auf solche Situationen vorbereitet sein. Dabei war zu berücksichtigen, dass ihn bereits am Ortseingang von Steinbach ein ungutes Gefühl überfallen hatte. Das fand seinen Höhepunkt, als er in die Webergasse eingebogen war. Das Einzige, was der Name hergab, war das neue Straßenschild. Beide Häuser zur Rechten, sowie die gegenüber, hatte man erst kürzlich abgerissen.
Zufall?, hatte er sich gefragt, als er sich mit seinem Luxusgefährt in Zeitlupe den Schotter entlangtastete. Einige Meter weiter stand ein Bagger neben heruntergekommenen Gehöften. In der Schaufel stapelte sich Geröll. Dahinter lugte ein winziges Fachwerkhaus hervor.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, hatte die autoritäre Dame des Navis behauptet, als er zweifelnd die Adresse verglich. Webergasse 10. Kein Irrtum möglich.
»Ich weiß, wer Sie sind. Schließlich haben wir miteinander telefoniert, Herr Kommissar.«
»Kriminalhauptkommissar.« Er schaute irritiert auf, als er urplötzlich seine Stimme wiederfand.
»Macht das einen Unterschied?«
Ihre seicht daher gesäuselte Frage strafte ihr abwertender Blick Lügen. Frau Gruber war sich seiner Stellung durchaus bewusst, was ihn maßlos ärgerte.
»Also, hören Sie. Ich habe jetzt nicht die Zeit, mit Ihnen zu diskutieren. Schließlich habe ich das Essen auf dem Herd. Unsereins hat im Gegensatz zu anderen Verpflichtungen, die sich nicht aufschieben lassen.«
»Was bitte wollen Sie damit andeuten?«
Roland war kurz davor zu explodieren. Unbeeindruckt plapperte sie weiter.
»Pünktlichkeit, Herr Schäfer, ist eine Zier. Wir hier im Osten hatten eine gute Kinderstube. Sie täten gut daran nicht zu vergessen, dass man hier auf solche Details einen großen Wert legt.«
Jetzt stieß er die Luft deutlich hörbar aus seiner Lunge, was sie nur noch mehr anstachelte.
»Ich rate Ihnen, wenn Sie hier mit den Einheimischen klarkommen wollen, und das setze ich mal voraus, dann müssen Sie sich dementsprechend benehmen. Dazu gehört, sich an Absprachen zu halten. So, jetzt muss ich los. Hier sind die Schlüssel.«
Als er sie entgeistert ansah, schossen ihre wild gezupften Augenbrauen in die Höhe.
»Sie sind doch Kriminalbeamter. Da werden Sie es wohl schaffen, das Haus eigenständig in Augenschein zu nehmen«, legte sie fest, schüttelte dabei ihre weiße Lockenwicklerfrisur und zog das morsche Holz hinter sich ins Schloss.
Verdattert hing sein Blick an dem nach beiden Seiten pendelnden Plastikblumenkranz über der milchigen Glasscheibe.
»Was für ein Drachen!«, entfuhr es ihm.
Plötzlich fühlte er sich unendlich erschöpft. Taumelnd trat er zwei Schritte rückwärts, bis er den schmalen und einer Hühnerleiter ähnelnden Treppenaufgang spürte. Ohne dem Knarren der Stufe Beachtung zu schenken, sank er auf ihr nieder. Wie lange er so dasaß und Löcher in die gegenüberliegende Wand starrte, wusste er nicht. Irgendwann tat ihm der Hintern weh. Die enge Stufe, die niemals einem heute genormten Schrittmaß entsprach, war für ihn einfach nicht gemacht. Der Kontakt mit der nächsten Treppenkante bohrte sich schmerzhaft in seine Lenden.
Kopfschüttelnd betrachtete er seine Socken. Dann zog er sich an dem massiven Geländer nach oben. Während er mühsam in seine Schuhe kroch, sah er sich endlich um. Bisher schien er sich in einem anderen Universum zu bewegen. Anders konnte sein Ermittlergehirn das, was er eben erlebt hatte, nicht begreifen. Die ländliche Gegend hatte man ihm durchaus als beschaulich beschrieben.
»Aber wohnen wollen Sie dort nicht«, hatte ihn seine neue Sekretärin angeblafft.
»Sie bleiben besser in der Großstadt. Ein verwöhnter Wess ..., ähm ... Mann wie Sie, wird es hier schwer haben. Einem, der das Stuttgarter Pflaster gewohnt ist, könnte hier ein Kulturschock bevorstehen. Also, werde ich mich mal in der Lokalpresse von Salzungen umsehen.«
»Frau Grimm, das ist nicht nötig. Bemühen Sie sich nicht. Außerdem verbitte ich mir diesen Ton«, hatte Roland versucht, die aufbrausende Frau zu stoppen. Sekunden später war die zum Angriff übergegangen.
»Mein Ton ist völlig in Ordnung!«, keifte sie. »Im Übrigen sollten Sie sich schnellstens an unsere Gepflogenheiten gewöhnen. Wir kennen uns nämlich, im Gegensatz zu Ihnen, in dieser Gegend aus.«
»Meine Entscheidung, von Stuttgart nach Bad Liebenstein zu gehen, werde ich vor Ihnen nicht rechtfertigen und geht Sie nichts an.«
»Wie Sie meinen.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sie seinem wütenden Blick standgehalten, sich zu ihrem Schreibtisch gedreht und ihn anschließend ignoriert. Es hatte nur ein Antrittsbesuch werden sollen. Mit einigem hatte er durchaus gerechnet, aber mit einem derartigen Empfang sicher nicht. Nach diesem hitzigen Gespräch ahnte er, dass ihre baldige Zusammenarbeit auf eine harte Probe gestellt werden könnte. Dennoch hatte sie zähneknirschend nachgegeben. Anschließend war die übergeordnete Polizeibehörde in Bad Salzungen sehr bemüht gewesen, möglichst in naher Umgebung des Liebensteiner Reviers etwas Geeignetes zu finden. So war er letztendlich hier gelandet.
Hätte ich auf Petra Grimm hören sollen?, fragte er sich seufzend.
»Auf keinen Fall«, knurrte er und trat hinaus auf den ungepflasterten Hof.
Kapitel 2
Noch im Wagen zweifelte Roland Schäfer an seinem Vorhaben. Sein offizieller Amtsantritt war für Montagmorgen geplant. An einem Freitag, unangemeldet und gänzlich unerwartet seinen Schreibtisch beziehen zu wollen, konnte komplett nach hinten losgehen. Dabei stand er nur aus einem Grund vor dem Polizeirevier. Ein anderer Ort war ihm, nach seiner sprichwörtlichen Flucht, auf die Schnelle nicht eingefallen. Um ehrlich zu bleiben, war es das einzige Haus, das er bisher kannte. Er atmete tief durch, verriegelte den Mercedes und bewegte sich zielsicher auf den Eingang zu. Mit einem prüfenden Blick in das spiegelnde Türlicht rückte er Jackett und Binder zurecht.
Missbilligend verzog sich sein Mund. Dann schob sich seine große Pranke über die Klinke. Den kleinen Raum, den er betrat, als Großraumbüro zu bezeichnen, war die Übertreibung des Jahres. Nicht gerade üppig, hatte er damals irritiert gedacht. Jeder Zentimeter der vier Wände war effektiv ausgenutzt. Jetzt mussten die drei Kollegen wegen seiner ungewöhnlichen Entscheidung, stets vor Ort zu ermitteln, den knappen Platz mit ihm teilen. Das hatte verständlicherweise für wenig Begeisterung gesorgt.
»Sind Sie nicht etwas früh dran?«, riss ihn eine quietschige Stimme aus seinen Erinnerungen.
Oh, Gott, dachte er und zog instinktiv den Kopf ein. Wie hatte ich die vergessen können?
Langsam drehte er sich in ihre Richtung. Nur mit Mühe zwang er sein Gesicht zu einem mäßigen Lächeln. Petra Grimm stand kaum fünfzig Zentimeter hinter ihm und mit einer Miene, die Steine zum Schmelzen bringen konnte.
»Guten Morgen, Frau Grimm.« Sein gereizter Ton ließ jeden Kopf nach der Ursache suchen.
»Offensichtlich ist es jetzt mit dem guten Morgen vorbei«, nörgelte die Frau und drehte sich um.
Peter Förster, der ansässige Kriminalbeamte, erwiderte ebenfalls nur knapp die Begrüßung des Neuen. Eilig drängte er sich an Schäfer vorbei und verschwand aus dem Büro. Augenscheinlich hatte er es plötzlich sehr eilig, seinen Schreibtisch zu verlassen. Roland Schäfer holte tief Luft.
»Guten Morgen, Herr Kriminalhauptkommissar. Es freut mich, dass Sie es heute schon möglich machen konnten. Ich habe geglaubt, Sie stecken noch mitten im Einzugsstress.«
Überrumpelt und mindestens ebenso erstaunt drehte er sich um die eigene Achse und sah in ein freundliches Gesicht. Das war ihm bei seinem letzten Besuch noch nicht begegnet. Der einen Meter neunzig große Mann überragte den Hauptkommissar um gut zehn Zentimeter. Schäfer blickte zu ihm auf und begutachtete ihn neugierig.
»Ich bin Hans Lichtholz – Kriminalmeister und Ihr direkter Partner.«
In seiner kräftigen Stimme schwang Stolz. Seine Ausstrahlung gefiel Schäfer. Endlich einmal ein aufgeschlossenes Gesicht, stellte er erleichtert fest. Was er sah, ließ ihn zufrieden nicken. Ein perfekt sitzender Anzug, dazu ein blütenweißes Hemd und geputzte Schuhe, der Mann entsprach seinen Vorstellungen von einem Kriminalbeamten im Dienst. Die locker sitzende Jeans und ausgetretenen Sandalen des Kollegen auf der Flucht hingegen würde er umgehend ändern.
Ganz egal, wieviel Unmut ich damit heraufbeschwöre. Von einem Polizisten vor Ort erwarte ich das Tragen der Uniform. Das ist das Mindeste und wohl kaum zu viel verlangt. Gut, dass niemand seine Gedanken hören konnte. Kurz wechselte sein Blick auf den blonden Zopf, der Lichtholz lässig über dem Rücken baumelte.
»Vielen Dank für den Empfang. Offenbar ist über meine Anwesenheit nicht jeder begeistert«, maulte er.
Lichtholz schmunzelte. »Da könnten Sie recht haben. Das kann ich durchaus verstehen. Es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass wir mit einem neuen Vorgesetzten aus dem ...« Plötzlich unterbrach er sich. Binnen Sekunden zog eine tiefe Röte über sein gepflegtes Gesicht.
»Westen, wollten Sie doch sagen. Nun, daran werden wir uns alle gewöhnen müssen, oder?« Lichtholz nickte und räusperte sich verlegen.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Büro.«
Er stiefelte mit forschem Schritt in den hinteren Bereich des Raumes. Hinter einem Plastikaufsteller versteckt, war ihm der Zugang zunächst entgangen. Außerdem war es damals einfach unmöglich gewesen, am Grimmschen Bollwerk vorbeizukommen.
»Es ist nicht groß«, versuchte Lichtholz dem Kommissar zuvorzukommen. Dessen abschätzige Miene sprach Bände.
»Immerhin gibt es eine Tür«, bemerkte der steif. »Fürs Erste muss es dann wohl genügen.«
Bei dieser Aussage runzelte sein Kompagnon unverständlich die Stirn. Man hatte vermutlich einiges an Innenstruktur verändern müssen, um ihm wenigstens dieses Büro zur Verfügung stellen zu können. Dass er nicht vor Dankbarkeit sprühte, würde ihm vermutlich über kurz oder lang Ärger einbringen. Ganz sicher. Ein Stöhnen zu unterdrücken, gelang ihm zum Glück. Ohne weiteren Kommentar schob er sich hinter den Schreibtisch. Um genügend Platz für seine massige Figur zu finden, musste er kurzzeitig die Luft anhalten.
Geliebte Gewohnheiten, wie sich per Bürostuhl durch den Raum zu bewegen, konnte er sich getrost abschminken. Als er endlich saß, schaute er auf und schickte seinen verärgerten Blick über die kahlen Wände. Dass man erst kürzlich den Pinsel geschwungen hatte, war unübersehbar. Es überraschte ihn allerdings kaum. Bis zuletzt hegte man wohl die Hoffnung, der Neue würde es sich anders überlegen.
Die vergangenen vierundzwanzig Stunden in Frau Grubers Schmuckstück waren ihm Warnung genug gewesen. Klar, war das Häuschen für die nächste Zeit sein Zuhause. Vielleicht hätte er sich irgendwann arrangiert. Doch als er heute Morgen den Schlüssel vor der Haustür klappern hörte und den derben Schritt seiner Hauswirtin vernahm, hatte es ihn schier aus dem Haus getrieben.
Angeblich wollte die besorgte Frau nach dem Rechten sehen. Hat man da Töne! Was soll denn bei einem Kriminalhauptkommissar nicht in Ordnung sein?
Erneut spürte er die Wut hinter seiner kräftigen Brust. Das wird das Nächste sein, was sich ändern muss. Es geht einfach nicht, dass die unmögliche Person im Haus steht, wann immer es ihr beliebt. Schließlich bin ich der Mieter. Da habe ich Rechte. Aus seinen Gedanken gerissen, hörte er Lichtholz Stimme.
»Gibt es etwas, was wir besprechen müssen?«
Ihm war der mürrische Gesichtsausdruck nicht entgangen.
»Dass ich hier einen anderen Umgang vorfinden werde als zunächst angenommen, war mir seit dem Januar bereits klar. Aber im eigenen Heim nicht davor sicher zu sein, das geht mir eindeutig zu weit. Vollkommen inakzeptabel!«
»Ach, Marianne Gruber.« Lichtholz verstand plötzlich. Schäfer sah ihn irritiert an.
»Wir haben uns schon gewundert, dass sie überhaupt ihr Haus zur Vermietung anbietet. Zugegeben, die Frau ist ein bisschen eigen.«
»Ein bisschen?« Erneut stand Schäfer der Ärger im Gesicht.
»Eine Eigenart, die in unseren Tälern weit verbreitet ist. Wenn Sie die Leute erst kennenlernen, werden Sie sich schon daran gewöhnen. Am Wochenende sollten Sie sich unters Volk mischen. Das hilft.«
»Unters Volk, wo denn? Die Straßen sind doch meistens menschenleer.«
Lichtholz schüttelte den Kopf. »Um die zu finden, müssen Sie dort hingehen, wo sich die Leute treffen. In der Mausefalle beispielsweise.«
Jetzt war es am Hauptkommissar, ungläubig den Kopf zu schütteln. »Was soll das sein?«
»Eine urige Kneipe. Dort bekommen Sie eine gutbürgerliche Küche und was viel wichtiger ist, den notwendigen Kontakt. Auf den können Sie hier unmöglich verzichten.«
Die Art der Kontaktaufnahme war Schäfer nicht unbekannt. Der Schwabe an sich tat sich für gewöhnlich im Umgang mit Fremden von Natur aus schwer. Bei dem Gedanken an ein gutes Essen war ihm jeder Ort willkommen.
»Wo finde ich denn die, wie sagten Sie?«
»Mausefalle!« Lichtholz lachte. »Wenn Sie wollen, begleite ich Sie. Die perfekte Gelegenheit, meinen Chef vorzustellen.«
»Wegen mir«, nuschelte Schäfer. »Solange Marianne Gruber mich nicht auch noch dort heimsucht, ist mir alles recht.«
Das Grinsen auf dem Gesicht seines Partners wurde noch ein Stück breiter. »Das dürfen Sie nicht so eng sehen. Marianne ist hier
geboren, kennt praktisch jeden und kümmert sich um ihre Nachbarn. Im Übrigen, stets ein Quell sprudelnder Informationen.«
»Seltsame Methoden«, warf Schäfer ein.
Dabei wusste er genau, wie wichtig einheimisches Wissen sein konnte. Das vor seinem Mitarbeiter zuzugeben, hätte jedoch bedeutet, nicht als allwissend zu gelten.
»In den kleinen Ortschaften, wo sich Neuigkeiten schneller verbreiten, als es eine WhatsApp kann, unabdingbar. Aber zurück zu Marianne. Die hat das Herz auf dem rechten Fleck. Davon bin ich überzeugt.«
»Zumindest in diesem Punkt darf ich doch wohl widersprechen. Ich frage mich, wenn sie ihr Schmuckstück nicht einmal einem erfahrenen Kriminalbeamten überlassen kann, wieso rückt sie es überhaupt heraus?«
Aus dem Lächeln des Kriminalmeisters wurde ein angenehmes Lachen. »Sie traut eben niemandem, der nicht hier geboren wurde.«
»Und einem aus dem Westen schon gar nicht«, ergänzte Schäfer spitz.
»Richtig. Das liegt daran, dass die Leutchen damals in den Neunzigern schlechte Erfahrungen gemacht haben. Solche Dinge brennen sich unwillkürlich in das Gedächtnis einer gewachsenen Gemeinschaft ein. Und die zu löschen, braucht einfach Geduld.«
Schäfer stöhnte. Bisher hegte er noch die Hoffnung, die Ablehnung beträfe allein seine Person. »Soweit ich weiß ...«, setzte Lichtholz fort, »... ist sie vor einer Weile ins Haus ihres Sohnes gezogen. Dem ist die Frau gestorben. Sie kümmert sich um ihre Enkel. So steht das Haus zurzeit leer.«
»Aha«, bemerkte Schäfer erschöpft.
»Ich schlage vor, Sie richten sich erst einmal ein. Wenn Sie noch etwas benötigen, ich bin um die Ecke. Ich glaube, es wird genügen, wenn wir am Montagmorgen die Truppe auf den Stand der Dinge bringen, einverstanden?«
Wüsste er es nicht besser, wirkte sein neuer Partner allmählich ungeduldig. Aber vielleicht irrte er da auch. Immerhin hatte er angeboten, mit ihm in die Kneipe zu gehen. Ungewöhnlich fand er, war aber dennoch nicht abgeneigt. Schäfer nickte kurz und dann war er allein.
Gewohnheitsgemäß versuchte er, sich mit dem Stuhl zu drehen, und blieb prompt am Schrank hängen. Fluchend zog er sich am Tisch zurück. Mit fahrigem Griff inspizierte er Schubladen, Ablagen und diverse Ordner. Alles, was der Beamte benötigte, war vorhanden. In Griffweite, wenn auch noch jungfräulich, konnte er somit sofort beginnen. Wenigstens erlaubte ihm eine solide Ausstattung auf dem Schreibtisch und im Büro einen reibungslosen Start.
Nach einer Stunde, in der er weder von einem Telefonat, noch irgendeiner Kommunikation der Beamten im Revier Zeuge wurde, erschien die graublaue Fönfrisur seiner Sekretärin in der Tür.
»Ich besorge jetzt etwas zu essen. Soll ich dem Herrn Kriminalhauptkommissar etwas mitbringen?«
»Nein, danke!«
Am liebsten hätte er gebrüllt: Sie möge sich sofort aus seinem Sichtfeld verziehen. Wenn er auch am Verhungern war, die Blöße, sich ausgerechnet von Petra Grimm versorgen zu lassen, die kam nicht in einhundert Jahren infrage.
»Das habe ich mir schon gedacht«, erklärte sie frech. Noch ehe es ihm bewusst wurde, hatte sich deren Mimik schlagartig geändert. »Wie Sie wollen. In Zukunft müssen Sie sich selbst kümmern. Ich werde Sie bestimmt nicht noch einmal fragen und betteln werde ich schon gar nicht. Soweit kommt es noch. Oder sind Sie am Ende auf Diät?«
»Was bitte geht Sie das an?« Mehr brachte er vor lauter Empörung nicht über die Lippen.
»Nichts. Es sei denn, Sie sind Veganer.«
»Was?«
»Dann, Herr Kommissar, könnten Sie Gefahr laufen, hier zu verhungern.«
Unwillkürlich zogen sich seine Augenbrauen nach oben.
»Ach so, Herr Kriminalhauptkommissar Schäfer.«
Mit einem gehässigen Grinsen verdrehte sie die Augen und stolzierte davon. Schäfer schloss die Augen und lehnte sich frustriert zurück. Dabei berührte sein Kopf unweigerlich den Aktenschrank hinter ihm.
»Das ist ein einziger Alptraum«, flüsterte er, griff nach seinem Jackett und eilte aus dem Büro. Zielgerichtet, dem Ausgang entgegen, schritt er an den nun wieder besetzten Schreibtischen vorbei.
»Auf Wiedersehen und schönes Wochenende!«, hörte er Petra in seinem Rücken. Bevor er die Tür hinter sich ins Schloss zog, vernahm er: »Typisch Wessi, keinerlei Manieren. Na, den werde ich schon erziehen.«
Mit geballter Faust stürmte er ins Freie. Als er in den Wagen stieg, näherte sich Lichtholz und winkte. »Gegen sechs hole ich Sie ab.«
Dann verschwand er im Haus. Langsam fuhr Schäfer an. Dabei sah er im Rückspiegel, wie sich die Gardine hinter dem Revierfenster bewegte.
»Geben Sie einen Zielort ein«, forderte die Stimme vom Navi.
»Stuttgart!«, plärrte er und schlug aufs Armaturenbrett.