Fire and Night - Anna
Kapitel 1
Montagmorgen, sechs Uhr dreißig, und es goss wie aus Eimern. Der Regen rann literweise am Fenster herunter. Anna streckte einen Fuß unter der Decke hervor und beschloss augenblicklich, ihn zurück ins Bett zu ziehen.
»Was für ein scheußliches Wetter«, knurrte sie. »Keinen Hund jagt man da vor die Tür.«
Es nützte nichts. Sie musste das warme Bett verlassen. Vielleicht lässt der Regen nach, wenn ich aus dem Haus gehe.
Mit diesem Trost im Kopf verlor sich ihr Blick am Fenster. Wenn sie ehrlich war, gab es nur einen Grund, weshalb ihr der starke Regen die Laune verhagelte. Heute Morgen würde sie auf ihr liebgewordenes Ritual, den Flirt mit dem Kanalarbeiter, verzichten müssen. Seit zwei Monaten lebte die gesamte Straße mit einer gigantischen Großbaustelle. Eigentlich echt nervig. Lärm, Schmutz, weite Wege und das für längere Zeit. Für Anna hatte jedoch mit dieser Baustelle etwas sehr Unerwartetes begonnen.
An einem Nachmittag - vier Wochen, nachdem Jochen ausgezogen war, musste sie sich neu sortieren. Zu allererst brauchte sie neue Möbel. An dem Tag, als diese angekündigt waren, sah sie panisch die Straße hinauf.
»Wo bitte soll der Möbelwagen halten? Vor dem Haus? Unmöglich! Ist das nicht schon schlimm genug? Jetzt fängt es auch noch an zu regnen.«
Annas zarte Stimme vermochte sich nicht gegen den Wind zu behaupten. Dabei hatte ihre Wut mehr aus ihr herausgeholt, als üblich. Klar standen die Möbelpacker unter großem Zeitdruck. Sie hatten es sich einfach gemacht. Dann kam, was kommen musste. Die Männer zucken nur genervt mit den Schultern und stellten kurzerhand ihre Lieferung vor dem Nachbarhaus ab. Völlig verzweifelt hatte sie sich umgeschaut.
»Na, junge Frau. Es sieht so aus, als könnten Sie Hilfe brauchen«, hatte eine dunkle Stimme hinter ihr gesagt.
Dem musternden Blick des Mannes war sie für einige Sekunden ausgesetzt. Der hatte genügt, um sie in eine andere Umlaufbahn zu schießen. Dass ein Mann wenige Meter weiter das Geschehen beobachtete, war ihr entgangen. Er musste in seiner Baugrube gestanden haben.
Jetzt, wo sie sich daran erinnerte, blieb ihr spontan die Luft weg. Das lag nicht allein an ihm, auch wenn er völlig unerwartet neben ihr erschienen war. Vielmehr war es Annas Unfähigkeit, sich spontan auf etwas Unvorhersehbares einzustellen. Ad hoc und aus dem Bauch heraus? Auf Anna bezogen, war das reine Utopie. Verblüfft und erschrocken hatte sie in ein braungebranntes Gesicht geblickt.
»Oh, man, Anna, geht es auch einmal ohne die Rotumleuchte in deinem Gesicht?«
»Diese Frage ...«, maulte sie stöhnend. »... wird mich wohl ewig verfolgen.«
Jochen war nicht der erste Mann in ihrem Leben, der sich über ihre Schüchternheit beschwerte oder unübersehbar amüsierte. Viel zu schnell hatte sie damals das Gefühl der Ohnmacht abgeschüttelt. Möglicherweise ließ sie die Situation aus der Starre erwachen.
»Helle, türkisfarbene Augen«, sinnierte sie, noch immer unverändert mit der Nase an der beschlagenen Fensterscheibe hängend.
Diese durchdringende Farbe war tatsächlich nicht das Einzige, wonach ihre vernachlässigte Libido verlangte. Der raue, beinahe fordernde Ton, verpackt in zauberhaften Worten, kroch ihr gerade erneut unter dem Haaransatz entlang. Während sie sprachlos an seinen Augen gehangen hatte, wartete er einfach. Sicher, sein verführerisches Lächeln war zu offensichtlich gewesen, als dass sie es nicht hätte zuordnen können. Allerdings hatte sie ihm genügend Zeit dafür verschafft.
Am Ende hatte sie nur wenige Sätze gebraucht, um ihm klarzumachen, wo die Möbel eigentlich hin sollten. »So eine Frechheit!«, maulte sie damals. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das alles nach oben kriegen soll.«
Ihr Ton hatte sich gewaltig von dem gewohnten Zwitschern unterschieden. Ein Zeichen für die Wut, die sie gepackt hatte. Für den Mann mit dem sanften Lächeln in den Augen war das gar kein Problem. Er hatte nach seinem Kollegen gepfiffen und ihn herangewunken.
Bei den Worten: »Kleines, Berliner Männer beschreibt man nicht grundlos als kess und unkompliziert«, war ihr für Sekunden das Blut eingefroren. Er hatte sie in einer Art gehaucht, rauchig und zugleich sinnlich, was sie gerade jetzt wieder auf ihrer Haut spürte. Nicht, dass sie sich mit so etwas auskannte.
»Gott bewahre«, murmelte sie völlig in ihre Erinnerung vertieft.
Dummerweise war es eben genau diese Intensität, die sich bis heute in ihre Träume schlich. Jeden Morgen erwachte sie mit Herzklopfen. Dass der Mann mit seiner frechen Art richtig lag, zeigten ihr die Möbel in der Wohnung, denn eine halbe Stunde später hatte sich jedes Möbelstück dort befunden, wo es sein sollte. Seit damals flirtete er mit ihr. Sie plauderten ungezwungen. Es war inzwischen zur Routine geworden. Wenn es etwas gab, was Anna beherrschte, dann war es das Festhalten an täglichen Abläufen. Sie gaben ihr Sicherheit, nahmen ihr die Angst vor Ungewohntem.
Manchmal ist Neues sehr schön!, nörgelte die kleine Stimme in ihrem Kopf.
Verträumt drehte sich ihr Zeigefinger durch ihre dunkelbraunen Haarsträhnen. Dass diese Baustelle irgendwann aufgelöst werden könnte, hatte sie bis heute einfach verdrängt. Mehr, als einen harmlosen Flirt, wollte sie sich sowieso nicht erlauben. Auch so ein Meilenstein ihrer Existenz. Gäbe es Weltmeisterschaften im Verdrängen, Anna würde sie alle gewinnen. Sie verdrehte die Augen und seufzte.
»Nicht einmal seinen Namen kennst du. Richtig«, ergänzte sie trotzig. »Und das ist auch gut so.«
Soweit wollte sie nicht gehen. Sie trug noch immer schwer an der plötzlichen Trennung von ihrer großen Liebe Jochen. Hätte ihr das jemand vor Wochen gesagt, für komplett verrückt hätte sie ihn erklärt. Ihrer Beziehung mit Jochen war sie sich immer sicher gewesen. Alles war bis ins Detail geplant, dieHochzeit und anschließend Kinder. Damals hatten sie sogar über ein Haus mit Garten gesprochen. Woher hätten denn Zweifel an der sicher geglaubten Zukunft kommen sollen? Obendrein kannten sie sich schon ein Leben lang, praktisch seit dem Kindergarten. Zwischen ihnen hatte es nie etwas Verborgenes gegeben.
Dass er Handelsvertreter und immer unterwegs war, hatte für Anna nie eine Rolle gespielt. Schließlich gab es ja genügend Möglichkeiten, sich nahe zu bleiben. Bis zu dem verhängnisvollen und für Jochen so enorm vielversprechendem Hongkonger Auftrag. Als er mit diesem Angebot nach Hause kam, hatte Annas Zeitrechnung einen neuen Anfang genommen. Schon nach einer Woche, als er zum ersten Mal vor Ort gewesen war, bemerkte sie eine Veränderung in seinem Gesicht. Eine weitere Woche verging und er sprach euphorisch von Plänen und unerfüllten Träumen. Eben allem, was er glaubte, in seinem bisherigen Leben verpasst zu haben. Das hatte er nun in Hongkong gefunden - so plötzlich – aber wie er sagte, war es unwiderruflich. Wieder eine Woche später und Jochen war ausgezogen. Die Wohnung war ihr zwar ge- blieben, nur mit kahlen, leeren Zimmern. Alles, was er besaß, hatte er in einen Container gepackt. Drei Tage später schipperte selbst ihr Bett über den Ozean und der neuen Bestimmung entgegen.
Anna wollte nie wirklich darüber nachdenken. Alles war so schnell gegangen. Sie konnte nichts weiter tun, als seine Entscheidung hinzunehmen. Unter Schock stehend, hatte sie das Unfassbare zugelassen. Ärgerlicherweise waren es seine Möbel gewesen. Und was nun? Völlig durch den Wind hatte sie damals die Tür hinter sich ins Schloss gezogen. Mit einer notdürftig gepackten Tasche über der Schulter war sie erst einmal zu ihrer Schwester Milena geflohen. Die zog sie wortlos in die Arme, nahm ihr die Tasche aus der Hand, ließ sie ankommen und hatte dann einfach nur zugehört.
Dabei hatte Milena Jochen von Anfang an nicht gemocht. Sie fand ihn unzuverlässig und unberechenbar, was er ja nun unter Beweis gestellt hatte. Keine Vorwürfe, stattdessen Verständnis und Geduld hatten bereits Tage später Wirkung gezeigt. Anna ging wieder zur Arbeit und begann, langsam Pläne zu schmieden. Etwas total Neues für sie. So lange sie sich erinnern konnte, hatte Jochen jede Entscheidung für sie getroffen. Sie fand das in Ordnung und, um ehrlich zu bleiben, auch äußerst bequem.
»Jetzt musst du lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und das möglichst schnell«, hatte Milena erklärt.
Wie froh Anna war, dass sie wenigstens einmal auf ihre Schwester gehört hatte, konnte sie kaum sagen. Als sie damals bei Jochen eingezogen war, hatte er auf ein gemeinsames Konto bestanden, was sie nicht akzeptierte.
»Bevor ich nicht deine Frau bin, werde ich meine finanzielle Unabhängigkeit nicht aufgeben.«
»Die beste Entscheidung deines Lebens«, wurde sie von Milena gelobt.
Und heute Morgen nun dieser Regen. Anna stand noch immer am Fenster. Das Grau des Himmels reichte bis zum Horizont. Dabei zeigte der Kalender den ersten Mai und der sollte eigentlich nach Frühling riechen. Das Schauspiel draußen zeugte aber eher von November. Annas Ärger war ungerecht. Den gesamten April über hatte das Frühjahr für Wohlfühltemperaturen gesorgt. In den Gesichtern der Arbeiter war die Kraft der Sonne ablesbar. Dass die Männer, die jeden Tag körperlich schwer arbeiteten und dabei dem Wetter ausgesetzt waren, einen super Körperbau aufwiesen, stand selbst für Anna außer Frage. Wenn sie ehrlich war, faszinierte sie jedoch nur einer von ihnen. Vor ihren verträumten Blick, der unverändert an der regennassen Aussicht klebte, schob sich das Bild eines braungebrannten Hünen.
»Gott, wie groß ist dieser Mann?«
Diese Frage hatte sie täglich auf den Lippen, wenn sie im Hausflur verschwand. Neben dem türkisfarbenen, unverschämten Blick waren es die feinen Grübchen um seine Mundwinkel, die sie anzogen. Anna war sicher, die hatte er sich mit seinem fröhlichen Gemüt geschaffen. Eine halbe Stunde später verließ sie endlich die Wohnung. Im selben Augenblick spürte sie den Regen auf ihrem Gesicht. Ein Blick in die inzwischen vertraute Richtung - die Baustelle war verlassen.
»Natürlich, bei dem Scheißwetter kann keiner in der Grube stehen.« Ihr Gemurmel klang nach Hoffnung.
Als sie am Nachmittag in die Straße einbog, hingen ihre Augen am Straßenende. Die Baustelle schien endgültig verschwunden zu sein. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Schade, aber nicht zu ändern, dachte sie. Du vermisst ihn! Kopfschüttelnd stimmte sie der Besserwisserin in ihrem Kopf zu.
Bis heute hatte es keinen einzigen Morgen gegeben, an dem sie sein verschmitztes Lächeln und einige Worte nicht in den Tag begleiteten. Er sprach wirklich nicht viel, überlegte sie. Vielleicht war die Gelegenheit zu kurz oder unpersönlich?
Du warst mit ihm nie allein!, wurde sie von ihrem Ego ermahnt.
Es genügte ihm vermutlich, um Annas Aufmerksamkeit zu fesseln.
»Guten Morgen, schöne Frau! Heißes Wetter heute.«
Floskeln, mehr war es nie, was sie austauschten. Kleine Gesten, ganz gleich wie belanglos, aber die besorgten ihr seitdem heiße, ungezogene Träume. Eine Tatsache, die Anna am Anfang völlig durcheinander brachte. Irgendwann war sie bereit, wenigstens im Dunklen, die hitzigen Vorstellungen zuzulassen. Sie überfielen sie automatisch, sobald das Licht ausging. An eine, wie auch immer geartete Realität bloß zu denken, schloss sie bisher aus.
»Eher werde ich sterben«, murmelte sie wieder und starrte noch einmal sehnsüchtig in den Regen.
Wie vom Wetterbericht für die restliche Woche vorhergesagt, setzte die Sintflut in der Nacht wieder ein. Die Ahnung, ihn nie wiederzusehen, tat weh.
»Und das nur, weil du zu feige warst, ihn wenigstens nach seinem Namen zu fragen. Schließlich war lange vor dem großen Regen abzusehen, dass sich die Straßenarbeiten dem Ende zuneigten. Doch du wolltest es nicht wahrhaben, hast dich daran gewöhnt.« Dass er täglich auf sie wartete, machte es noch schlimmer. »Warum hat er nichts gesagt?«, murmelte sie ratlos. »Hör auf zu träumen«, knurrte sie ihr Gesicht im Spiegelbild der angelaufenen Fensterscheibe an. »Wenn ihm etwas an dir gelegen hätte, dann hätte er den Mund ganz sicher aufgemacht. Er musste doch wissen, wann die Straße fertig ist.«
Trotzdem, sie erinnerte sich lebhaft, wie er nur noch allein in der Baugrube stand. Ging sie ins Haus, war für gewöhnlich wenig später von ihm nichts mehr zu sehen.
»Das war doch keine Einbildung«, brummte sie erneut.
Noch Wochen später schaute sie wehmütig auf die ehemalige Baustelle. Die war inzwischen vollkommen verschwunden. Eine neue Straßendecke mit angrenzendem Fuß- und Radweg zeugte eindeutig von der Fertigstellung.
»Wie war das? Wer zu spät kommt«, sagte sie traurig. »Dabei wollte ich doch in Zukunft keinen Mann mehr ansehen. War das nicht mein Plan gewesen? Den kann ich ja nun wunderbar in die Tat umsetzen.«
Anna erinnerte sich an die klaren Worte, mit denen sie ihr Konto vor Jochen beschützt hatte und wie er mit einem ungläubigen Kopfschütteln reagierte. So war die leere Wohnung zumindest finanziell keine größere Katastrophe gewesen. Wie schnell sie sich an die neu gewonnene Freiheit gewöhnte, wurde ihr erst jetzt richtig bewusst. Sie hatte große Freude beim Einrichten ihres Zuhauses und das, allein nach ihrem Geschmack. Die schnelle Hilfe der Männer aus der Baugrube hatte es ihr ermöglicht, ohne Probleme ein neues Leben zu beginnen frei und unabhängig.
»Ja, frei und allein«, seufzte sie. »So wird es bleiben.«
Der Entschluss, in nächster Zukunft keinem Mann mehr vertrauen zu wollen, setzte ihr empfindlich zu. Leider wusste sie keinen anderen Ausweg.