The Black Rose - Liebe
Kapitel 1
London
Goldfarbene Pupillen spiegelten sich im zarten Glas der Kugeln. Abwesend glitten sie über silberne Zapfen, zierliche Baststerne und künstliches Kerzenlicht.
»Guten Morgen, mein Schatz.« Das sanfte Flüstern hinter ihr ließ sie empfindlich zusammenfahren. Gregors warme Hand legte sich auf ihre Schulter.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Polly rührte sich nicht. Ihr Herz trommelte fühlbar unter ihrer Haut. Ohne ein weiteres Wort setzte sich der stämmige Mann neben sie. Seine Beine in einen Schneidersitz zu zwingen, bedurfte durchaus Mühe. Die ignorierte er. Minutenlange Stille, in der zwei Augenpaare im Dunkelgrün einer wuchtigen Tanne hingen. Der Weihnachtsbaum der Taylers nahm traditionell die halbe Fläche des Wohnzimmers ein.
Gregor wagte kaum zu atmen. Jede Regung seiner Tochter erinnerte ihn schmerzlich an seine erste große Liebe. Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte er geschworen, über jede Empfindung, die jetzt seine Brust empfindlich einengte, hinweg zu sein. Seine Gefühle brüllten nach Freiheit, auch wenn der Weg zu Polly unendlich weit schien.
»Gregor, warum?«
Nur zwei Worte. In ihnen verbargen sich fünfundzwanzig Jahre, an denen er nicht teilhaben durfte.
»Sophie wollte es so.« Seine Stimme klang fremd. Ausnahmezustand, von einer Sekunde auf die Nächste. Nie zuvor hatte er sich in einer ähnlich verzwickten Lage befunden.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Aiden ein Mädchen mitbringt, das sich als mein verlorenes Kind entpuppt? Wie soll ich damit umgehen? Diese Fragen hatten ihm den Schlaf der vergangenen Nacht gekostet.
»Das weiß ich«, flüsterte sie.
Stille. Nur ein hilfloses Seufzen brachte er hervor. Als sich ihre Hand plötzlich auf seine legte, glaubte er zu ersticken. Tränen sammelten sich und fanden ohne Hindernis den Weg über glühende Wangen. Dann spürte er ihren fragenden Blick. Ein Anblick, den er niemals vergessen konnte.
»Du bist ihr so ähnlich.« Seine Lippen bebten.
Sie hörten Schritte, die sich zunächst näherten, abrupt stoppten und sich dann vorsichtig entfernten.
»Maria hat das Frühstück fertig.«
»Du liebst sie?«
»Ja, sie ist eine tolle Frau.« Erneut bildete sich ein Schleier vor seinen Augen. Er schluckte und tätschelte ihre Hand. »Wir sollten die anderen nicht warten lassen.«
Pollys Blick hing an den zahlreichen Päckchen unterm Baum. Wild verstreut folgten sie keiner Ordnung. Er erkannte, woran sie dachte.
»Es ist Weihnachtsmorgen. Wir haben gestern das erste Geschenk aufgemacht. Bevor die anderen sich auf die Päckchen stürzen, solltest du auch eines öffnen.« Ehe sie ablehnen konnte, fuhr er fort. »Nimm das mit den rosa Schleifen«, flüsterte er zärtlich.
»Aber, aber ...«, stammelte sie. »Das ist nicht meine Familie. Ich bin doch nur zu Gast.«
Gregor runzelte die Stirn, quälte sich auf die Knie und angelte das Päckchen hervor. Mit strengem Blick legte er es Polly in die Hände. »Aufmachen!«
Das gelbe Kästchen war so klein, dass sich ihre Ablehnung legte. Ihre Finger zitterten. Es dauerte etwas, ehe das Papier knisternd verschwand.
»Das ist doch ...?« Ihre Stimme versagte. »Wann hast du ...?«
Jetzt hing ihr tränennasser Blick im strahlenden Gesicht des Mannes, der ihr zärtlich übers Haar strich.
»Das ist alles, was mir von Sophie geblieben ist. Seit damals hüte ich sie wie einen wertvollen Schatz. Jetzt gehört er dir.«
Unzählige vergilbte Fotos verdeckten die Weihnachtsmotive der Tischdecke. Gerührt fischte sie eines der Bilder hervor. Mit riesigen Augen starrte sie das junge Pärchen an.
»Wie alt wart ihr da?«
Gregor reckte sich. »Lass mich überlegen. Zwölf, denke ich.«
»Zwölf?« Pollys Blick verharrte auf seinem verschmitzten Lächeln.
Jedes Bild, das durch ihre schwitzenden Hände rutschte, hätte ein Spiegel sein können. Sophie war zu jeder Zeit ihres Lebens ein Ebenbild von ihr. »Aber jetzt flunkerst du. ’Cottage-Rose’ lag nicht gerade um die Ecke.«
»Stimmt, aber zur Schule gegangen sind wir schon. So wie du.«
Grinsend stupste er sie in die Seite. Eine leichte Röte zog in ihr Gesicht. Die rosa Blase der Erinnerungen verlor sich in realen Schwarz-Weiß Fotos aus einem anderen Leben.
»Also kein peinliches Drama, nichts Mystisches und noch nicht einmal verboten.« Ihr Blick wurde weich.
Da Fraser MacGlenn von Sophie kaum Notiz nahm, hatte sie ihre Jugend frei ausgelebt. Polly konnte das, was Gregor erzählte und mit jedem Foto belegte, nicht einmal annähernd mit den Beschreibungen ihrer Mutter in Verbindung bringen.
»Meine liebe Tochter. Es gibt keine traurige Geschichte. Sophie wollte keine feste Bindung. Niemals, das hat sie stets betont. Meiner Meinung nach hätte man ihr nichts Schlimmeres antun können.«
»Und wie erklärst du meine Existenz?« Ihre Stimme klang nach Trotz. Damit verleitete sie ihn erneut zum Schmunzeln.
»Deine Mutter war eine der größten Verfechterinnen der freien Liebe. Sie überließ es mir dafür zu sorgen, dass unsere Verbindung ungezwungen blieb.« Sein Blick verlor sich in der Tanne. Dann suchte er ihre Augen. »Sie nannte es: Verrat an der Liebe, wenn sie verhütet.«
Pollys Augenbrauen zogen sich nach oben, worauf er nur mit den Schultern zuckte. Ganz gleich, ob sie die Tatsachen leugnete oder nicht, Thereses Sorgen sprangen ihr aus Gregors Worten praktisch ins Gesicht.
»Da ist es ja erstaunlich, dass ich ein Einzelkind bin.«
Sein freches Lachen nahm ihr die Verlegenheit. »Das darfst du Sophie nicht nachtragen. Es war ihre Art, mit dem Leben auf ‚Black-Farm‘ zurechtzukommen. Wenn ich ehrlich bin, war es genau diese Eigenart, die mich an sie kettete.«
Pollys Blick verschmolz erneut mit dem Tannengrün. »Übelnehmen, nein, das kann ich nicht. Da hast du recht.« Auf seinen Lippen standen tausend Fragen. »Weißt du, Therese wurde nie müde zu betonen, wie ähnlich ich ihr bin, beinahe wie ein Zwilling.«
»Zwillinge, hm ...« Aufmerksam sah er sie an.
»Ja, das darfst du gern wörtlich nehmen. Ich fürchte, in jeder Hinsicht.« Ihre Mimik schwankte zwischen frechem Schmunzeln und traurigem Seufzen.
»Bevor wir zum Frühstück gehen ...« Gregor blickte über seine Schulter. Er wollte sich vergewissern, noch immer ohne Zeugen zu sein. »Wie steht es um die Beziehung mit Aiden?«
»Was soll damit sein?« Frustriert versuchte sie zu blocken.
»Du hast sofort erleichtert gewirkt. Du kannst mir nichts vormachen. Ich kenne diesen Blick. Also, abstreiten ist keine Option.« Erneut sah er sich um. »Egal, was du mir anvertraust. Es bleibt unter uns. Darauf kannst du dich verlassen. Ich bitte dich, sprich mit Aiden. Als ich Maria kennengelernt habe, war er sieben Jahre alt. Ich liebe ihn, wie meinen eigenen Sohn.«
Die leisen Worte schossen ihr wie ein Pfeil ins Herz. Unwillkürlich formten sich ihre Hände zu Fäusten. Fingernägel bohrten sich schmerzhaft ins Fleisch.
»Mein Herz gehört Ian MacGill.«
Gregor konnte sein Erstaunen nicht schnell genug verbergen. »Earl MacGill?«
»Genau der.«
»Wie passt Aiden dazu?«
Polly holte tief Luft. Nervös kaute sie auf ihrer Lippe herum. »Das ist eine furchtbar lange Geschichte.«
Die Sekunden der Ruhe wirkten, als wäre sie nicht bereit, sie mit ihm zu teilen.
»Dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Gregor, ich brauche deinen Rat.«
»Die nehmen wir uns. Komm, es wird Zeit.« Er erhob sich und forderte ihre Hand. Ohne zu zögern griff sie nach seinen Fingern. Gemeinsam gingen sie zur Tür. »Polly, bitte nenne mich nicht Gregor. Papa oder Vater wäre mir sehr recht.« Sein bezauberndes Bitten nahm dem Fünfundfünfzigjährigen die Strenge seines Alters.
»Einverstanden. Aber nur, weil du so schön betteln kannst.«
Die Küche der Taylers erinnerte Polly an ihr Cottage. Zunächst zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Trotzdem gelang es ihr, sich sichtlich zu entspannen. Unter Marias flinken Händen füllte sich der Küchentisch.
»Guten Morgen, alle zusammen.« Aiden gähnte herzhaft, schritt zielstrebig auf Polly zu und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Sie zuckte erschrocken und sah sich um. Keiner der Familie schien sich daran zu stören. Gregor trug seit sie in der Küche ankamen, ein Pokerface.
Er sah kurz von seinem Sandwich auf und grinste unverschämt. »Meine Liebe, du hast dich heute Morgen wieder einmal selbst übertroffen.« Er schenkte seiner Frau ein zärtliches Lächeln. Derweil schaufelte sie ihm eine Portion gebratener Eier auf den Teller. Verstohlen grinste er seinen Stiefsohn an. Die Vertrautheit der beiden bescherte Polly ein nervöses Schlucken.
»Esst ihr immer so viel?«
Gregor und Aiden grinsten aus einem Gesicht. »Englisches Frühstück ist deftiger und reichhaltiger als in Österreich, vermute ich.«
Sie lächelte und überlegte. Therese hatte sie, solange sie denken konnte, jeden Morgen mit frischgebackenem Brot und Croissants versorgt. Marmelade und Gelee kochte sie selbst. Sie versuchte sich zu erinnern, was Fraser mochte. Vermutlich hatte er ähnliche Gewohnheiten wie Oskar. Aber so wie auf diesem Tisch Würstchen, Spiegeleier, gegrillte Tomaten, Bohnen, Pilze und gebutterter Toast um den angestammten Platz kämpften, glaubte sie keinem, dass es ein alltägliches Frühstück war.
»Du müsstest inzwischen wissen, dass ich für Baked Beans und Bacon so manches geben würde.«
Polly musste lachen. Aiden verstand es noch immer, sie mit einem einzigen Satz in gute Laune zu versetzen. Die reine Frohnatur, dieser Mann konnte gar nicht anders.
»Polly, erzähle ein wenig von Wien«, forderte Maria.
Dankbar wendete sie sich ihr zu. »Wien, nun ja, ich lebe schon seit vielen Jahren nicht mehr in der Stadt. Aber es ist bezaubernd und aufregend, in der quirligen Metropole zu leben. Eine Reise ist sie immer wert. Ihr solltet darüber nachdenken.«
In den sanften Gesichtszügen der schwarzhaarigen Schönheit standen Geduld und Zuversicht. Irgendwann schaffte es Polly, den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Mit jedem Wort gelang der Weg zurück in die eigene Vergangenheit. Fasziniert hingen die Taylers an ihren Lippen.
Am Nachmittag schlenderten Vater und Tochter in Richtung Innenstadt.
»Warst du noch nie in London?«, fragte Gregor. Polly sah ihn erstaunt an.
»Was sollte ich denn in England? Schottland ist viel schöner. Aber was hat dich eigentlich hierher verschlagen?«
»Der Job.«
»Zahnärzte brauchen die Schotten nicht. Verstehe!« Sie lachten lauthals. Dabei war schon am Abend klar, dass die wenigen Tage nicht annähernd genügten, um fünfundzwanzig Jahre Lebensgeschichte auszutauschen.
»Erwischt!« Er schmunzelte. »Gut, ich gebe es zu. Ich konnte die Erinnerung nicht ertragen. Es war für mich schwer, Sophie zu vergessen. Ich wusste, dass sie schwanger war.«
»Aber ihr habt geheiratet. Das passt doch nicht zusammen.«
»Oh, doch. Das war der Deal, den wir ausgehandelt hatten. Sie bestand darauf, modern zu leben, ohne Konfessionen. Sie meinte: Willst du Sex, dann sorge für Sicherheit.« Gregor sah verlegen auf seine Schuhe.
Sie verstand es nicht sofort. Immerhin hatte er die Geschichte schon erzählt. Er empfand es als einigermaßen schräg, ein so delikates Thema mit seiner Tochter zu besprechen. Vor allem, da er sie gerade einmal seit einem Tag kannte.
»Hat nicht funktioniert«, sagte sie trocken.
»Doch, mehr als vierzehn Jahre.«
Abrupt blieb sie stehen. »Mit fünfzehn! Nicht dein Ernst?«
»Sophie war frühreif«, versuchte er sie zu verteidigen.
»Ich meinte nicht Mama.«
Beinahe wäre er gestolpert. »Du bist wie deine Mutter. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Aiden ...« Er räusperte sich. »Entschuldige, ich wollte nicht ...«
Lächelnd schob sie ihre Hand in seine. »Du warst also frühreif.«
»Sag mal, wie sprichst du denn mit deinem Vater?« Sein schelmisches Grinsen war ansteckend. »Außerdem bin ich fast sechs Monate älter als Sophie.« Sie lachten gemeinsam. »Aber zurück zu dir und Aiden. Was ist denn das nun für eine Geschichte mit dem adligen Herrn?«
»Wo fange ich da an?« Polly stöhnte.
»Am Anfang«, forderte er.
Zwei Stunden später glühten dem gestandenen Mann die Ohren. Es war eine gewaltige Anstrengung, alle Eindrücke der letzten Stunden einzuordnen. Die vielen Jahre an der Seite ihrer Mutter halfen ihm jedoch beim Verstehen. Illusionen hatten somit keine Chance.
»Polly, ich werde dir weder reinreden, noch eine deiner Entscheidungen in irgendeiner Weise werten. Das steht mir nicht zu. Dennoch solltest du die Beziehung zu Aiden überdenken. Bitte, verstehe mich nicht falsch. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie schwer die Ereignisse für dich sind.« Vorsichtig suchte er ihren Blick.
»Ich weiß, was du sagen willst. Dabei mag ich Aiden wirklich. Aber Ian ...«
Gregor bemerkte Tränen, die sich in ihren Augen sammelten. Er nahm sie in seinen Arm. Seine warme Hand streichelte über ihre kühle Haut.
»Wir atmen, also gibt es Hoffnung.«
»Hast du gehofft?« Ihre Frage war ein einziges Flüstern.
Er schüttelte den Kopf. »Unsere Liebe hatte sich schon länger abgekühlt. Als mir klar wurde, dass ich nicht ihre Zukunft sein werde, habe ich einen dummen Fehler gemacht. Ich war so verzweifelt.« Allmählich fiel ihm das Atmen schwer. »Gleich, als klar war, dass sie schwanger ist, hat sie mich mit meinen Absichten konfrontiert. Was sollte ich tun? Ich wusste es immer. Für Sophie gab es keine gemeinsame Zukunft. Nicht einmal zu dritt.« Trauer zog um seine Mundwinkel.
»Warum? Keine Frau mutet ihrem Kind zu, ohne den Vater aufzuwachsen.«
»Weiß ich nicht. Anfangs dachte ich, sie hätte jemand anderen kennengelernt. Ich habe gehofft, sie hätte es dir erzählt.«
»Nein, kein Wort. Um deine Existenz hat sie ein großes Geheimnis gemacht.«
»Verstehe, typisch für die MacGlenns«, sagte er bitter.
»Geheimnisse durchziehen deren Geschichte. Darin waren sie Experten.« Polly zwinkerte ihm zu. »Aber wenigstens nach mir suchen hättest du können.«
»Ich fürchte nein. Sophie war clever. Ich wusste nicht einmal, ob das Kind geboren ist. Vielleicht war es auch feige. Schließlich war es meine Schuld. Ich habe die Abmachung absichtlich gebrochen. Damit hatte ich jegliches Vertrauen verspielt. Da war sie so eisern, wie Fraser MacGlenn. Wenigstens legte sie Wert darauf, dass du nicht unehelich zur Welt kommst. Was hätte ich tun können? Die Scheidungspapiere gingen mir mit der Post zu.«
Dann schwieg er. Gefangen in schmerzhaften Erinnerungen zeigten sich schmale Falten um seine Augen. Polly erkannte die Parallelen zu ihrer eigenen Vergangenheit. Sie konnte ihn nicht verurteilen. Streng genommen tat sie mit Ian und Aiden nichts anderes. Unverhofft Mutter zu werden, das konnte ihr ebenso passieren. Jegliche Warnung ihrer Großmutter hatte sich verloren, sobald Ian am Horizont erschien. Und nun hatte sie den Mann, der bereit gewesen war, sich für sie zu verändern, verloren. Unvermittelt rannen neue Tränen über ihre Wangen.
»Trotzdem darfst du die Hoffnung nicht aufgeben. Meine eigene Geschichte hat mich davon überzeugt, es muss immer einen Weg zurück geben.«
»Nein«, murmelte sie und schniefte. »Inzwischen ist er verheiratet. Er sah keinen anderen Ausweg. Ohne sich abzusichern, lässt sich der Castello-Clan auf keinen Deal ein. Und selbst wenn er ...«
Ein heftiges Schluchzen riss ihr fast die Brust entzwei. Gregor zog sie an seinen Körper und wartete, bis sich das Beben legte. Weitere Informationen waren unnötig. Das, was sie ihm anvertraute genügte sicherlich, um ein klares Bild zu bekommen.
»Aiden war nicht fair, oder?«
»Wie meinst du das?«
Langsam fuhr sein Finger über ihre Wange. »Er weiß von Ian?«
Sie nickte. Die klare Ansprache ihres Vaters zeigte ihr die ernsthafte Natur des Mannes. »Man nutzt eine derartige Sache nicht aus. Es musste ihm doch klar sein, was passieren würde. Deshalb brauchst du dir gar keine Vorwürfe machen. Er hat es versucht und wird dich am Ende verlieren. Genauso, wie es mir mit deiner Mutter gegangen ist.«
»Da konntest du doch nichts dafür.«
»Und ob«, rief er aus. »Todsicher, und du reagierst wie Sophie.« Wieder erfasste ihn ein sichtbarer Schmerz.
»Es tut mir leid.« Sie drückte seine Hand.
»Das muss es nicht. Ich hätte es wissen müssen. Wir waren uns einig und sie hat mir vertraut. Ich habe es darauf angelegt ...« Gregor errötete.
»Oh«, sagte sie und blieb stehen.
»Leider habe ich so euch beide verloren.« Sein Blick verlor sich in den Mauern des Kensington Palace. Sie kamen an diversen Sehenswürdigkeiten vorbei. Nicht eine davon fesselte ihre Aufmerksamkeit.
»Willst du mir damit sagen, du hast Mama absichtlich geschwängert?«
»Gott, Polly, bei dir klingt das wie ein Verbrechen.« Sein Blick verlor sich im alten Gestein der Windsors. »Ich habe gehofft, Sophie mit einem Kind, unserem Kind, die Flausen aus dem Kopf zu nehmen.« Sie sah ihn an, als hätte sie ihn zum ersten Mal betrachtet. »Polly, bitte.« Seine Stimme war nicht mehr als ein Säuseln.
Sie griff nach seiner Hand und schmunzelte. »Du hast mich missverstanden.« Zärtlich schob sie ihre Arme um seine Taille. »Danke, Papa.« Ihren Armen folgte ihr Kopf. Der versank an seiner Brust.
»Das ist ... ungewöhnlich.« Während er sie fest an sich drückte, versuchte er offenbar zu verstehen, was gerade passierte.
»Mein Leben war bis heute wunderschön. Es gibt nichts, worüber ich mich beklagen müsste. Sicher, jetzt wo ich dich kennenlernen durfte, vermisse ich die Zeit schon, die uns nicht vergönnt war. Aber mal ehrlich, es hätte schlimmer kommen können. Vor einem warne ich dich. Lass dir bloß nicht einfallen, so plötzlich aus meinem Leben zu verschwinden wie Mama.«
Darauf fiel ihm nichts ein. Er schüttelte nur den Kopf und hob ihr Kinn an. Vermutlich suchte er in ihren Augen eine Trauer, die es nicht gab.
»Ich hätte euch in der schlimmen Zeit nicht allein gelassen, Maria würde es verstehen. Sie ist eine wunderbare Frau.«
Sein Körper versteifte sich. Vielleicht dachte er, mit der Erwähnung seiner Frau den falschen Zeitpunkt erwischt zu haben. Doch die Wärme seiner Worte hatten sich bereits in ihr Herz geschlichen. Sie klammerte sich an seinen Arm.
»Du bist mir also nicht böse?«
»Nein, wie könnte ich? Therese hat mir von unserem Familienfluch erzählt. Sie verlangte von mir, nicht nach hinten zu schauen.« Erneut wurde ihr Gesicht nass. »Ich fürchte, ganz gleich was ich tue, dem Schicksal entgehe ich nicht. Dabei habe ich mich so sehr dagegen gewehrt.«
Plötzlich nahm er sie an der Schulter. »Bist du schwanger?«
»Nein.« Ein winziges Lächeln versuchte dem Kummer zu entkommen. »Hast du Angst davor, Großvater zu werden?«
»Sicher, dafür bin ich viel zu jung. Maria würde mir die Ohren langziehen.«
Es gelang ihnen, gemeinsam zu lachen. Erneut zog er sie an sich. Befreit vergrub sie sich an seinem massigen Körper.
»Versprich mir, ganz egal was ich für Dummheiten mache, du lässt mich nie allein.«
»Natürlich, mein Kind. Sophie hat an ein vorbestimmtes Schicksal geglaubt. Ich könnte mir vorstellen, dass sie uns hier stehen sah, noch bevor du geboren wurdest. Das Schicksal führt mich zu dir, wenn du mich am meisten brauchst.«
»Eine schöne Vorstellung, danke«, murmelte sie. »Was mache ich denn nun mit Aiden?«
»Sprich mit ihm. Und nur keine Schonung für den Casanova. Ein Mann darf die Schwäche einer Frau nicht ausnutzen.«
»Aber ich glaube, er meint es wirklich ehrlich. Seine Gefühle für mich sind nicht vorgespielt.«
»Dann erst recht nicht. So sicher bin ich mir da allerdings nicht. Unabhängig davon musst du ihm klarmachen, dass es über eine Affäre nicht hinausgehen wird.« Seine Beharrlichkeit erstaunte sie. »Im Grunde war das von Beginn an klar. Vielleicht wollte ich ihm nicht weh tun. Ich habe mich nach Wärme und Geborgenheit gesehnt.«
Gregor verzog entschuldigend den Mund. »Na ja, es geht mich nichts an. Ihr seid schließlich erwachsen.« Liebevoll drückte sie seine Hand. »Lass’ uns nach Hause gehen. Es ist Weihnachtstag, Familienzeit.«
Sie löste sich von ihm. »Da hast du recht. Zum Reden gibt es noch genügend Zeit.«
»Aiden, bitte!« Ihr Ton hatte etwas Flehendes.
Frustriert hob er die Hände. »Ich war also für dich nichts weiter als ein Spielzeug?«
Polly traute ihren Ohren nicht. »Du wusstest, was zwischen Ian und mir vorging. Spätestens dann, als er zurückkam.« Wut schnürte ihr die Kehle zu.
Aiden wuselte sich durchs Haar. Nach dem Essen hatten sie sich in sein Jugendzimmer zurückgezogen. Die Flugzeugmodelle, die unschuldig von der Decke hingen, erzählten von seinen Träumen. Auch wenn das Zimmer, dank seiner schrägen Wände nicht groß war, fühlte sie sich wohl. Das kleine Vorstadthaus strotzte vor Liebe und Wärme, die seine Bewohner ausstrahlten. Aiden unterschied sich kaum von den anderen. Wirklich zornig konnte er nicht sein. Sicherlich fühlte er sich verletzt und irgendwie betrogen. Kleinlaut murmelte er: »Stimmt.« Verlegenheit ließ ihn blinzeln. Ein zauberhaftes sympathetisches Lächeln umspielte seinen schönen Mund. »Ich habe geglaubt, jetzt wo Ian in Mexiko geblieben ist, wäre der Weg frei. Gespielt habe ich nie. Polly, es war mir ernst, bereit, es mit einer Beziehung zu versuchen. Auch wenn du schwierig bist. Doch als wir hier ankamen, warst du ...« Vorsichtig tastete sein Blick ihr Gesicht ab.
»Was war ich?« Glut zeigte sich in ihrem Blick.
Davor schreckte er zurück. »Du bist erleichtert gewesen, als du den Eindruck bekommen hast, wir könnten Geschwister sein. Es schien, du atmetest förmlich auf, die passende Gelegenheit, die Zeit zurückzudrehen.«
»Das klingt, als hätte ich das alles beabsichtigt.« Erneut übermannte sie Wut. »Ich war verzweifelt und einsam. Du hast es ausgenutzt und ich habe es genossen.«
Aiden sah auf. Für Sekunden erstarrte er. Ihre Blicke verkeilten sich ineinander. Ganz langsam verzogen sich seine Mundwinkel nach oben. Sein unglaubliches Lachen war ansteckend. Es tat gut, wieder miteinander fröhlich zu sein. Er stand auf und zog sie an seine Brust.
»Gut, dann sind wir also quitt. Wir haben es nicht besser verdient. Aber dass ich dich mag, ist trotzdem nicht gelogen.« Vorsichtig schob er ihre Haarsträhnen hinter die Ohren. »Solltest du an der Liaison mit mir festhalten wollen, ich bin bereit. Aber wenn ich meine Ms Right gefunden habe, hört das auf.« Aiden machte ein wichtiges Gesicht.
Gespielt empört hob sie die Hände. »Jetzt gib hier nicht den Macho. Den kaufe ich dir nicht ab. Aber danke, vielleicht komme ich noch einmal auf dein Angebot zurück.« Ein seltsames Lächeln bemächtigte sich des hübschen Männergesichts. »Nicht heute Abend. Der gehört meiner neuen Familie.«
Der Mann zog eine Schnute. Dann gab er sie frei. Seufzend ging er zur Tür. »Also dann, gehen wir feiern.«
Die restlichen Feiertage verliefen ohne weitere Aufregungen. Polly fühlte sich aufgenommen und angekommen im Schoß der Familie. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Der Befürchtung, ein Fremdkörper zu sein, fehlte jegliche Grundlage. Sie hatte das Gegenteil erlebt.
Und du musstest noch einmal mit ihm schlafen!, nörgelte ihr Verstand. »Ja, er hat es Abschiedssex genannt.« Zufrieden grinste sie ihr Gesicht im Rückspielgel an, als sie den Zündschlüssel aus dem Schloss zog. Minuten später schob sie die Tür zum Cottage auf. Beklemmungen und Einsamkeit fraßen sich in ihre Seele.
Das Leben ist ungerecht, dachte sie. »Oh, Therese, wie hättest du wohl auf Gregor reagiert?«
Zitternde Finger strichen über das Bild in einem schlichten Rahmen. Eine Zeit lang saß sie einfach nur so da und schickte ihre Blicke an den Wänden entlang. Dass sie irgendwann beschließen könnte, diesen wunderbaren Ort verlassen zu wollen, hätte sie noch vor wenigen Monaten vehement bestritten. Seufzend wischte sie die Tränen vom Gesicht. Sie zog das Telefon aus der Jacke. Noch zögerten ihre Finger. Doch dann gab sie sich einen Ruck.
»Aiden, kannst du zu mir ins Cottage kommen?«, fragte sie, ohne ihn zu begrüßen. »Ich habe mit dir etwas zu besprechen.« Es dauerte eine Weile, ehe seine Antwort kam. Ihr trauriger Ton verhieß nichts Gutes. »Gut, danke. Bis gleich.« Wie damals sah sie aus dem Fenster und schob abwesend das Telefon über den Tisch. Eine lange Reihe von schmerzenden Bildern voller Erinnerungen zogen an ihr vorbei. Ungehindert rannen Tränen übers Gesicht. Die sammelten sich an ihrem Kinn und tropften auf das alte Holz. Nichts davon nahm sie wahr.